Hamburg. Auch gegen Kiel verspielt der HSV eine Führung. Solche Patzer haben eine Ursache – und die liegt in der Taktik von Tim Walter.
Unter den meisten HSV-Fans herrschte sofort kollektive Einigkeit darüber, wie das erneute Unentschieden zu bewerten war. Mit einem lautstark wahrnehmbaren Pfeifkonzert reagierten die Anhänger auf das 1:1 am Sonnabendabend gegen Holstein Kiel. Es war bereits das fünfte Remis im sechsten Heimspiel und das siebte nach zwölf Spieltagen. Eine Bilanz, mit der weder die Verantwortlichen des HSV noch die Fans zufrieden sind.
Dabei scheint das Hauptproblem der Hamburger hausgemacht. Denn die Spielverläufe liefen zuletzt häufig nach dem gleichen Schema ab: Der HSV beginnt stark, verpasst es dann aber, das verdiente zweite Tor zu erzielen und kassiert schließlich den Ausgleich, weil er defensiv zu offen steht. So geschah es gegen Kiel und zuvor auch schon gegen Düsseldorf (1:1), Darmstadt (2:2) und Dresden (1:1). Vier Heimspiele, in denen die Mannschaft von Trainer Tim Walter eine Führung verspielte.
Woran Walters HSV-Taktik krankt
Alles nur Zufall? Wohl kaum. Denn es ist auffällig, dass der selbstbewusste HSV-Coach seinem Spielsystem treu bleibt und seine Taktik nicht an den Spielstand anpasst. Eine bewusste Entscheidung, die man theoretisch sowohl positiv als auch negativ sehen kann. Beim HSV aber scheint sie der Grund zu sein, weshalb immer wieder mögliche Siege verschenkt werden.
Es scheint nicht mit Walters Naturell vereinbar, sich bei einer Führung auch mal etwas zurückzuziehen und auf Konter zu setzen. Der offensichtliche Vorteil, in der Defensive eine nummerische Überzahl zu haben, um nicht mehr Mann gegen Mann verteidigen zu müssen, scheint für Walter schwächer zu wiegen als der offensichtliche Nachteil, weniger Ballbesitz zu haben.
„Wir haben eine gewisse Philosophie, bei der wir viel den Ball haben und viel investieren“, entgegnete der Trainer auf eine entsprechende Frage und legte eine interessante Theorie hinterher. „Wenn man das gesamte Spiel betrachtet, sind wir von der Kompaktheit her die Nummer eins in der Liga. Es ist ganz normal, dass wir Fehler in der Verteidigung machen. Wir wissen, dass wir das abstellen müssen.“
HSV 1:1 gegen Kiel – die Bilder:
Holstein Kiel bleibt für den HSV ein Angstgegner
HSV: Walter wehrt sich gegen Kritik
Walter sieht den Hauptgrund für die verschenkten Siege nicht darin, defensiv zu anfällig zu sein, sondern in der Schwäche der eigenen Torausbeute. Denn Chancen – darüber herrscht auch bei den Fans kollektive Einigkeit – hat der HSV in jeder Partie genug, um auch mal mit mehr als nur einem Tor zu führen. „Wenn wir endlich mal den Deckel draufmachen würden, müssten wir uns über solche Dinge nicht unterhalten“, antwortete Walter auf eine kritische Frage nach seinem Spielsystem. Doch die Offensive ist qualitativ nicht gut genug besetzt, um die nötige Effektivität vorzuweisen.
Gegen Kiel war es Mikkel Kaufmann, der die größte Chance liegen ließ, als er beim Stand von 1:1 frei vor dem Tor auftauchte – und vergab. „Den kann man auch mal reinkicken“, sagte ein enttäuschter Walter, der solche vergebenen Möglichkeiten nicht mit seiner Taktik in Verbindung gebracht haben möchte. „Selber reinkicken kann ich sie nicht. Wir müssen lernen, uns zu belohnen.“
Lesen Sie auch:
Die Frage ist nur, wie lange diese Lernphase dauern soll. Zwölf Spieltage sind inzwischen gespielt. Es scheint offensichtlich, dass der HSV in dieser Saison nicht zu den effektivsten Zweitligisten vor dem Tor zählen wird. Und dennoch ist Walter nicht bereit, seine Taktik bei eigener Führung zugunsten der defensiven Stabilität anzupassen.
Welchen taktischen Fehler der HSV gegen Kiel machte
Beim Kieler Ausgleich war es Linksverteidiger Miro Muheim, der durch sein zu frühes Rausrücken auf Vorlagengeber Fin Bartels das Defensivkonstrukt ins Wanken brachte. „Der Gegner spielt einen perfekten Ball von der Außenlinie auf Bartels. Von acht Versuchen klappt das wahrscheinlich nur einmal“, analysierte Mittelfeldspieler Jonas Meffert am Tag danach. „Vielleicht hätten wir nicht so schnell herauflaufen dürfen. Unser Außenverteidiger (Muheim, d. Red.) hätte sich fallen lassen und Fin Bartels auf sich andribbeln lassen müssen. Dann hätten wir mehr Zeit zum Verschieben gehabt. Es war aber auch top gespielt von Kiel.“
Weitere HSV-Berichte:
- Uwe Seeler ist entsetzt über Joshua Kimmichs Impfeinstellung
- Panne? Darum spielten zwei Hamburger unter falschem Namen
- Kühne verkauft HSV-Anteile an Hamburger Medizin-Unternehmer
Generell ist Meffert – wie viele innerhalb der Mannschaft – total überzeugt vom Spielsystem seines Trainers, den er schon seit gemeinsamen Kieler Zeiten kennt. „Ich finde es gut, dass wir auch nach einer Führung weiter nach vorne spielen. Das kenne ich aus Kiel anders, als wir uns nach einer Führung zurückgezogen und verteidigt haben“, sagt der Mittelfeldstratege, der auf seiner Position für die Stabilität der Mannschaft verantwortlich ist. „Ich finde es viel besser, auf das zweite Tor zu spielen, aber irgendwie haben wir nicht das Quäntchen Glück.“
Walter genießt Rückhalt für sein HSV-System
Walters Fußball kommt innerhalb des Teams gut an. Doch unter dem Strich ist auch keiner der Spieler zufrieden mit der bisherigen Punkteausbeute. Eine Folge des Systems? „Unsere Art ist es, offensiv und aggressiv Mann gegen Mann zu verteidigen. Da ist nicht immer noch ein weiterer Spieler hinten, der absichern kann“, bilanziert Meffert vielsagend.
Doch möglicherweise würde es dem HSV guttun, bei eigener Führung durch taktische Veränderungen eine nummerische Überzahl in der Abwehr zu schaffen, um einen Sieg über die Zeit zu bringen. Dann würden auch die Fans nicht mehr pfeifen.