Hamburg. Mithilfe des Ankerplatzes hat der HSV nach dem Rassismus-Vorfall einen Täter schnell ermittelt. Der Kampf gegen Diskriminierung.
Wenn die Zuschauer am Sonnabend zur Primetime in das Volksparkstadion strömen, um das Heimspiel des HSV gegen Holstein Kiel zu sehen (20.30 Uhr/Sport1, Sky und Abendblatt-Liveticker), werden in der gesamten Arena 10.000 Flyer verteilt sein. Eine vom Flutlicht bestrahlte Eckfahne des HSV-Stadions ist auf den Papieren abgebildet mit der Aufschrift: „Ankerplatz im Volksparkstadion“.
Spätestens dann dürften auch die letzten HSV-Fans wissen, welche Einrichtung der Club im Januar 2020 als einer der ersten Fußballvereine in Deutschland eröffnet hat: eine Anlauf- und Schutzstelle für Betroffene von jeglicher Form der Diskriminierung oder sexualisierter Gewalt.
Rassismus beim HSV: Ankerplatz ermittelte Täter
Genau zwei Wochen ist es her, dass der HSV gegen Fortuna Düsseldorf erstmals seit Beginn der Corona-Pandemie unter 2G-Bedingungen wieder die gesamte Zuschauerkapazität ausschöpfen konnte, die Stehplatzränge wieder geöffnet waren und im Stadion wieder Bier verkauft wurde.
Was sich dann unter den 38.954 Zuschauern ereignete, sorgte jedoch prompt für ein Ermittlungsverfahren des Deutschen Fußball-Bundes. Ein Schiedsrichterassistent wurde von einem Düsseldorfer Anhänger mit einem Kugelschreiber beworfen, der ehemalige HSV-Profi Khaled Narey von Hamburger Zuschauern mit Bierbechern. Der schlimmste Vorfall waren allerdings die rassistischen Beleidigungen gegen Narey und offenbar auch gegen Bakery Jatta. Narey selbst hatte die Beschimpfungen öffentlich gemacht, zudem dokumentierte ein Fan den Vorfall auf Twitter.
Mittlerweile konnte ein Täter identifiziert werden. Das Stadionmanagement hat daraufhin ein noch laufendes Stadionverbotsverfahren in die Wege geleitet. Auch dank der Hinweise, die den Club über den Ankerplatz erreichten.
Wie der Ankerplatz beim HSV entstand
Rückblick: Beim Heimspiel des HSV gegen den 1. FC Nürnberg am 30. Januar 2020 hatte die Einrichtung das erste Mal geöffnet. In einer ehemaligen Verkaufsbude im Stadionumlauf zwischen den Blöcken 22 und 23 A direkt bei der Nordtribüne sitzt seitdem ein Team aus zwei Mitarbeitern pro Spieltag in dem kleinen Häuschen und nimmt Beschwerden und persönliche Anliegen entgegen.
„Wir wollen ihnen das Gefühl geben, da zu sein. Gleichzeitig geht es um eine Botschaft an potenzielle Täter, dass wir präsent sind“, sagt Cornelius Göbel (37), Direktor der Abteilung Fankultur beim HSV. Göbel hat zusammen mit seinem Kollegen André Fischer (45) ein Team aus vier Honorarkräften zusammengestellt, die an den Spieltagen im Einsatz sind: Experten und Expertinnen aus dem Bereich Kriminologie, Psychologie, Sozialpädagogik und Erziehungswissenschaft. Sie alle wurden geschult von der Beratungsstelle Frauennotruf Hamburg.
Entstanden ist der Ankerplatz beim HSV im November 2019 durch eine Arbeitsgruppe des Netzwerks Erinnerungsarbeit zum Thema sexualisierte Gewalt. Einige Frauen, die für das Netzwerk aktiv sind, hatten sich schon länger mit dem Thema beschäftigt. Göbel und Fischer konnten das Projekt schließlich mit dem Ankerplatz in eine feste Struktur der HSV Fußball AG überführen. „Der Initiator des Ankerplatzes ist die Anhängerschaft selbst“, sagt Göbel.
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Ankerplatz – weil HSV-Fanszene sich änderte
Der Projektstart fiel in eine Zeit, in der beim HSV nicht nur wegen des Falls Bakery Jatta der Kampf gegen Rassismus und Diskriminierung jeglicher Form eine neue Bedeutung bekam. „Es gab beim HSV einen Kulturwandel in der Fanszene. Wir gehen sichtbarer mit den Themen um und schaffen mehr Bereiche, die Haltung des HSV und der Fans zu definieren“, sagt Göbel.
Im ersten Schritt wurde beim HSV die Stadionordnung geändert und ein Antidiskriminierungsparagraf aufgenommen. Darin heißt es jetzt: „Im Geltungsbereich der Stadionordnung nach Paragraf 1 sind jegliche Formen von Rassismus, Sexismus, Homophobie, Antisemitismus, Antiziganismus sowie alle weiteren Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit verboten.“
Ankerplatz erhält viele Hinweise von HSV-Fans
Nach fast zwei Jahren hat sich die Einrichtung etabliert, obwohl nach dem Start nur drei weitere Heimspiele hinzukamen, ehe die Corona-Pandemie begann und Geisterspiele den Fußball-Alltag bestimmten. Der HSV aber nutzte die Zeit, um das Team zu erweitern und das Projekt zu optimieren.
Wie wichtig der Ankerplatz schon jetzt ist, zeigte sich zuletzt beim Heimspiel gegen Fortuna Düsseldorf. Vor allem über die E-Mail-Adresse des Ankerplatzes erreichten den HSV viele Hinweise auf verschiedene Vorfälle von Diskriminierungen. Für die Fanbeauftragten kam diese auffällige Form der Enthemmung im Stadion nicht gänzlich unerwartet.
„Die Pandemie hat das soziale Miteinander verändert. Das spüren wir natürlich auch im Stadion. Umso wichtiger ist es, unsere Haltung nach außen klar zu transportieren“, sagt Göbel. Der HSV reagierte nach dem Rassismusvorfall vor zwei Wochen schnell mit einer klaren Positionierung und der Ankündigung, die Täter möglichst zügig zu ermitteln.
40.000 HSV-Fans gegen Kiel?
An diesem Sonnabend werden wieder rund 40.000 Zuschauer erwartet, davon 2000 Gästefans aus Kiel. Die aktive Fanszene wird aber auf beiden Seiten erneut nicht mit einem organisierten Support dabei sein. Um die Situation im Stadion zu verbessern, wurden bereits einige Maßnahmen beim Einlassverfahren vollzogen und zudem die Zahl der Verkaufsstände erweitert. Der HSV rechnet damit, dass es im und um das Stadion gesitteter zugeht, obwohl das Nordderby gegen Angstgegner Kiel auch wegen der Rückkehr der einstigen Fanlieblinge Lewis Holtby und Fiete Arp zusätzlich emotional aufgeladen ist.
So sehr die Vorfälle vom Düsseldorf-Spiel die HSV-Verantwortlichen geärgert haben, so sehr weisen sie darauf hin, dass es sich um Einzeltäter handelt. „Das Stadion ist ein Abbild der Gesellschaft. Nicht der HSV hat ein Problem mit Rassismus, sondern die Gesellschaft“, sagt Cornelius Göbel, der in den vergangenen Jahren beim HSV eine wichtige Veränderung beobachtet hat. „Die Fanszene hat in den vergangenen Jahrzehnten eine unglaublich positive Entwicklung genommen. Diskriminierung jeglicher Form finden wir in der Mitte der Gesellschaft, und das bildet sich im Stadion unter einem Brennglas ab. Wir wollen transparent sein. Nur so können wir an den Verhältnissen etwas ändern.“
Ankerplatz bringt den HSV nach vorn
Mit seinem Ankerplatz wird der HSV auch bei anderen Fußballclubs zum Vorbild. Insbesondere in Fußballstadien gehören Diskriminierungen gegen einzelne Spieler, aber auch den ganzen Club noch zur Tagesordnung. In Nürnberg soll es zuletzt einmal mehr zu rassistischen Rufen gegen Bakery Jatta gekommen sein. Beim Auswärtsspiel in Aue rief vor wenigen Wochen nahezu das gesamte Stadion antiziganistische Sprechchöre gegen den HSV.
Dass es heute noch zu einer derart kollektiven Form von Diskriminierung im Volksparkstadion kommen kann, wie man sie aus den 90er-Jahren kennt, schließt man beim HSV aus. Der Ankerplatz ist dafür ein wichtiger Bestandteil. Damit die Haltung klar ist: Rassismus und jegliche Form der Diskriminierung haben beim HSV keinen Platz.