Hamburg. Der Ex-Profi spielte für den HSV und Werder. Vor dem Derby analysiert er die letzten Jahre, die heutigen Kader und die künftigen Ziele.
Viel Zeit für ein Kabinenbier bleibt Martin Harnik am Sonnabend nicht. Nach dem Topspiel in der Oberliga Hamburg zwischen Tabellenführer TuS Dassendorf und dem punktgleichen Verfolger SC Concordia geht es für den Dassendorfer Stürmer mit dem Auto nach Bremen. Dort steht am Abend (20.30 Uhr) das Nordderby zwischen Werder Bremen und dem HSV an.
Harnik wird das Duell seiner zwei Ex-Clubs für Sport1 als Experte analysieren. „Mir liegen beide Vereine am Herzen“, sagt der 34-Jährige, der im September 2019 von Werder an den HSV verliehen wurde und in Bremen ein Jahr später seine Profikarriere beendete. Für das Abendblatt nahm sich Harnik drei Tage vor dem Spiel Zeit, die Entwicklung und die aktuelle Situation der beiden Traditionsclubs zu analysieren.
Harnik: „Es ging häufig um Eitelkeiten“
Der Abstieg: Harnik war 22 Jahre alt, als er sein erstes Nordderby spielte. Es war der 31. Bundesligaspieltag und der Abschluss der Werder-Wochen mit vier Spielen in 19 Tagen. Nach dem Sieg im DFB- sowie Uefa-Pokal-Halbfinale gewann Werder auch in der Liga gegen den HSV und nahm den Hamburgern auch noch die Chance auf die Champions League. Beim 2:0 durfte Harnik als Rechtsverteidiger durchspielen. „Für den HSV war es ein Trauma, für Werder ein absolutes Highlight“, sagt Harnik zwölf Jahre danach.
Nach dieser Saison begann beim HSV der lange Weg nach unten, der nun im vierten Jahr in der Zweiten Liga verläuft. Aber auch in Bremen ging es ein Jahr später peu à peu bergab. Nun treffen sich beide Clubs erstmals in der Zweiten Liga. Harnik, der Bremen 2010 verließ und 2018 zurückkehrte, hat beide Clubs über all die Jahre beobachtet. „Das war ein Prozess über viele Jahre, in dem viele falsche und schlechte Entscheidungen getroffen wurden. Es ging kontinuierlich bergab. Beim HSV etwas schneller, bei Werder mit Verzögerung, aber auch stetig“, sagt Harnik.
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Ursächlich sieht der Österreicher die Führungsebene. „Es ging häufig um persönliche Eitelkeiten“, sagt Harnik und zieht einen Vergleich: „Bei Bayern und Dortmund gibt es auch Diskussionen, aber am Ende wird eine Entscheidung im Sinne des Clubs getroffen und nicht im Sinne der Person.“ Die Gegebenheiten bei Traditionsclubs seien nicht das grundsätzliche Problem. „Es ist keine Frage des Geldes, sondern der Entscheidungen und der richtigen Philosophie.“
Während es beim HSV die Machtkämpfe waren, klammert Harnik das Problem der Eitelkeiten bei Werder aus. „In Bremen wurden vor allem falsche Entscheidungen in der Kaderzusammenstellung getroffen. Es waren zu wenige Typen in der Mannschaft, die in schwierigen Zeiten das Heft in die Hand genommen haben. Das war das Hauptproblem für den Abstieg.“
Ducksch und Weiser „machen sich keinen Kopf“
Die Kader: Vor einem Jahr kehrte Harnik nach Bremen zurück, weil durch den verpassten Aufstieg des HSV die Kaufpflicht erlosch. Werder plante ohne den Rückkehrer. Seitdem hat sich die Mannschaft extrem verändert – in Bremen, als auch beim HSV. Je zwölf Zu- und Abgänge waren es in diesem Sommer bei Werder, beim HSV stehen neun Neuzugängen sogar 14 Abgänge gegenüber. Trotzdem sieht Harnik beide Kader „grundsätzlich noch stark“. Vor allem Werder habe mit den Transfers von Marvin Ducksch (27/Hannover) und Mitchell Weiser (27/Leverkusen) ein Signal gesendet. „Das sind zwei Spieler, die richtig Qualität haben, aber auch Typen sind, die sich keinen Kopf machen. Mit den Spielern, die den Abstieg zu verantworten haben, kriegst du das nicht raus aus den Köpfen. Der Umbruch war richtig und gut.“
Aber auch den HSV-Kader hält der langjährige Nationalspieler noch für aufstiegsfähig. „Die Mannschaft ist eine gute Zweitligamannschaft, es ist aber keine Erstligaerfahrung mehr vorhanden. Da hat ein richtiger Wechsel stattgefunden. Der HSV hat in vielen Bereichen runtergeschraubt. Das Gehaltsgefüge ist ganz anders strukturiert, ist jetzt vernünftig und nachvollziehbar. Die großen Dinge werden nicht mehr realisiert. Einen Spieler wie Ducksch hätte sich der HSV nicht mehr leisten können. Da wird konsequent ein Weg gegangen mit jungen, hungrigen Spielern, der auch gegangen werden muss.“
Harnik: Werder-Probleme nicht Anfangs Schuld
Die Trainer: HSV-Trainer Tim Walter kennt Martin Harnik vor allem noch vom 6:2-Sieg des HSV gegen den VfB Stuttgart im Herbst 2019. Ein Spiel, das auch 4:4 hätte ausgehen können. Walters System sieht Harnik als größtes Merkmal beim HSV. „Das System ist außergewöhnlich und macht die Mannschaft besonders und schwer greifbar. Es ist aber auch ein System, das seine Schwächen hat. Es kann in beide Richtungen brutal ausschlagen. Es kann super dominant und frustrierend für den Gegner sein, aber auch anfällig, wenn bei Ballverlusten die Positionen nicht besetzt sind.“
Bremens Trainer Markus Anfang lasse eher „klassisch“ spielen. Die Startprobleme seien nicht seine Schuld gewesen. „Der Kader hat sich jede Woche verändert. Jetzt hat Anfang einen guten Kader zusammen. Er lässt sich erst so richtig bewerten, wenn die nächsten Spiele gemacht sind“, sagt Harnik. Bremen hatte aus den ersten vier Spielen nur einen Sieg geholt und 1:4 gegen Paderborn verloren.
HSV-System: „Ein Tod, den man sterben muss“
Die Stürmer: Ducksch, für den Werder 3,5 Millionen Euro an Hannover 96 zahlte und der in seinen ersten zwei Spielen drei Tore erzielte, hält Harnik für Bremens Topspieler. „Er zieht sein Ding durch und hat Selbstbewusstsein“, sagt der ehemalige Hannoveraner Harnik über den ehemaligen Hannoveraner Ducksch. Vor allem aber kenne dieser die Zweite Liga.
Das tut auch HSV-Stürmer Robert Glatzel aus seiner Zeit in Heidenheim. Nach einem guten Start vergab der 27-Jährige zuletzt einige Großchancen.
Doch nicht nur Glatzel. Harnik ist sicher, dass die mangelnde Chancenverwertung beim HSV – keine andere Mannschaft vergibt so viele Großchancen – mit dem System zu tun hat. „Die Stürmer müssen viel laufen und sind viel ins Pressing eingebunden. Wenn dann die Torchance vor dir liegt, und du hast einen Puls von 180 statt 120, dann ist es schwieriger, präzise abzuschließen. Das ist Fakt“, sagt Harnik. „Das ist ein Tod, den man aufgrund des Systems sterben muss.“
Harnik weiß das noch aus seiner Zeit beim VfB Stuttgart unter Alexander Zorniger 2015. „Er hatte einen ähnlichen Spielstil. Da haben wir, und vor allem ich, extrem viele Chancen liegen lassen. Da fängst du irgendwann an zu zweifeln.“
Für HSV und Werder zählt nur der Aufstieg
Die Ziele: Mit Verwunderung hat Harnik die Aussage von Bremens Sportchef Frank Baumann aufgefasst, dass es für Werder in dieser Saison zunächst um den sportlichen Wiederaufbau gehe. „Der Wiederaufbau muss jetzt abgeschlossen sein“, sagt Harnik nach den jüngsten Transfers. „Jetzt geht es um den Wiederaufstieg.“ Und auch der HSV müsse raus aus der Defensivhaltung. „Für den HSV zählt nur der Aufstieg. Welches andere Ziel wäre denn vertretbar?“ Spieler, die zum HSV oder zu Werder wechseln, wüssten ohnehin, worum es geht.
Harnik erklärt, warum das klare Ziel auch für die Spieler wichtig sei. „Wenn du ein Alibi hast, dass der Aufstieg gut wäre, aber nicht das oberste Ziel, macht das etwas mit den Spielern. Das ist dann verankert. In meiner Zeit in Hannover hat Martin Kind von Anfang an gesagt, der Aufstieg ist alternativlos. So geht man dann auch in die Spiele.“
Am Sonnabend wird Harnik im Stadion beobachten, wie die Spieler ins Nordderby gehen – und seine Analyse anschließend fortsetzen. Unabhängig vom Spielausgang meint Harnik: „Am Ende können es beide Clubs schaffen. Das Potenzial dafür haben sie.“