Hamburg. Beim Präsidiumsstreit geht es auch um die Interessen des Investors. Welche Position er künftig einehmen könnte, was er anstrebt.

Wahrscheinlich gibt es kaum etwas, was sich im globalen Fußballzirkus so großer Beliebtheit erfreut wie das „Was-wäre-wenn-Spiel“. Was wäre im WM-Finale 2014 wohl passiert, wenn Bundestrainer Joachim Löw Mario Götze, dem späteren Schützen des goldenen Tores, nicht zugeflüstert hätte, dass er besser als Messi sei? Was wäre bei Bayern Münchens historischer Champions-League-Niederlage gegen Manchester United passiert, als die Engländer 1999 zwei Tore in der Nachspielzeit erzielten, wenn Lothar Matthäus nicht zehn Minuten vor dem Ende ausgewechselt worden wäre? Und was wäre in der Abstiegssaison des HSV 2018 eigentlich passiert, wenn Filip Kostic im lebenswichtigen Spiel gegen den FSV Mainz 05 den Elfmeter verwandelt hätte? Alles schicksalhafte Was-wäre-wenn-Fragen, die nur einen Schönheitsfehler haben: Eine verbindliche Antwort wird es nie geben.

Das gilt natürlich auch für die hypothetische Frage, was passiert wäre, wenn Klaus-Michael Kühne am 12. April 2008 nicht im VIP-Bereich des Volksparkstadions auf den damaligen HSV-Chef Bernd Hoffmann getroffen wäre. Der MSV Duisburg besiegte den HSV in ziemlich grausamen 90 Minuten mit 1:0 – doch Hoffmann konnte sich dennoch als großer Gewinner fühlen. Denn: Der damalige HSV-Vorstandsvorsitzende hatte es geschafft, einen der reichsten Männer Deutschlands als HSV-Investor zu gewinnen. Es sollten zwar noch zwei weitere Jahre vergehen, bis der Vertrag auch besiegelt wurde. Doch wenn man so will, dann war dieses Treffen, der Einstieg Kühnes beim HSV.

Welche Rolle spielt Kühne im HSV-Machtkampf?

Was wäre wenn? Knapp 13 Jahre später scheint die Frage so aktuell wie eh und je. Der HSV spielt mittlerweile nur noch in der Zweiten Liga, Bernd Hoffmann ist (bereits zum zweiten Mal) Geschichte und die Vereinsverantwortlichen sind mal wieder heillos zerstritten. Ein Ende ist auch nach einem weiteren Schlichtungsversuch nicht in Sicht. Und Klaus-Michael Kühne? Der ist als Anteilseigner noch immer beim HSV dabei. Mittendrin? Oder nur dabei?

Diese Fragen werden von unterschiedlichen Seiten unterschiedlich bewertet. Und je öfter man diese Fragen stellt, desto mehr gewinnt man den Eindruck, dass es die zentralen Fragen im aktuellen HSV-Machtkampf innerhalb des Präsidiums mit Präsident Marcell Jansen auf der einen und seinen Vizes, Thomas Schulz und Moritz Schaefer, auf der anderen Seite sind.

Kühne besitzt noch immer 20,44 Prozent der HSV-Anteile

Doch welche Rolle spielt Kühne in der aktuellen Gemengelage tatsächlich? Die einen antworten: keine. Der Investor sei zwar noch immer ein wichtiger HSV-Partner, halte sich – anders als früher – medial zurück, wolle seine Anteile verkaufen statt vermehren und habe mit dem aktuellen Machtkampf zwischen Jansen und Schulz/Schaefer rein gar nichts zu tun. Die anderen behaupten: die entscheidende Rolle. Der Wahlschweizer wolle doch nur mitmischen, Präsident Jansen, Vorstand Frank Wettstein und der halbe Aufsichtsrat seien seine Marionetten und in Wahrheit wolle Kühne den ganzen HSV übernehmen.

Aktuell besitzt die Kühne Holding AG 20,44 Prozent der Anteile an der HSV Fußball AG. Mehrere Minderheitsaktionäre vereinen 3,89 Prozent der Anteile und der HSV e. V. besitzt als Mehrheitseigner 75,67 Prozent. Was wäre aber, wenn Kühne die Unwahrheit sagt und tatsächlich den HSV durch die Hintertür übernehmen will? Und was wäre, wenn all die Schreckensszenarien nicht mehr als genau das wären: ausgedachte Schreckensszenarien, die im besten Sinne den Trump-Zeitgeist treffen und als alternative Fakten präsentiert werden?

Macht also Präsident Jansen gemeinsame Sache mit Kühne und sind die Hoffmann-Vertrauten Schulz und Schaefer in Wahrheit die letzte Bastion dagegen? Das Abendblatt hat durch zahlreiche Gespräche mit allen Parteien in den vergangenen Wochen versucht, Licht ins Kühne-Dunkel zu bringen.

Kühne und der Anteilsverkauf

Der wichtigste Kronzeuge: Kühne selbst. Das Abendblatt schickte dem 83-Jährigen eine schriftliche Frage: Wie ist seine Meinung zum Streit innerhalb des Präsidiums, und wie steht er aktuell überhaupt zum HSV? Die Antwort einer Sprecherin der Kühne Holding AG ließ nicht lange auf sich warten: „Herr Kühne distanziert sich von allen vereinsinternen Streitigkeiten des HSV e. V.“ Und weiter: „Die Kühne Holding AG, über die Herr Kühne seine HSV-Anteile hält, wird im Falle von Satzungsänderungen bei der HSV Fußball AG in der Hauptversammlung stets in gleicher Weise wie der HSV e. V. abstimmen. Ziel ist es, gemeinsam mit Mitgliedern und Fans den HSV weiter zu stabilisieren.“ Der wichtigste Teil kommt aber noch: „Darüber hinaus ist die Kühne Holding AG gewillt, Anteile an der HSV Fußball AG abzugeben, um die Gesellschafterstruktur breiter aufzustellen. Wichtig dabei sind Partner, die eine Verbundenheit zum HSV besitzen.“

Kühnes großer HSV-Deal

Den Anfang bei der Spurensuche nach der Wahrheit macht – wie beim HSV so häufig – Bernd Hoffmann. Fast auf den Tag zehn Jahre nach dem Spiel gegen den MSV Duisburg wurde er 2018 zum zweiten Mal Vorstandsvorsitzender des Clubs – und versuchte, quasi als erste Amtshandlung, den Kontakt zu Kühne wieder zu intensivieren. Zwölfmal hat sich Hoffmann als neuer HSV-Chef mit Kühne getroffen, um den Wahlschweizer davon zu überzeugen, kurzfristig ein neues Abkommen abzuschließen und langfristig weiteres Geld in den HSV zu investieren.

Ein Vorhaben, das zunächst scheiterte. Als Hoffmann vor zwei Jahren dann im Familienurlaub weilte, versuchten Wettstein und Jansen ihr Glück – und hatten mehr Erfolg. Gemeinsam mit Justiziar Julius Becker flog das HSV-Duo am 19. Februar – dem Todestag Karl Lagerfelds – in die Schweiz, wo man mit Kühne und dessen Vertrauten Markus Frömming einen neuen HSV-Deal aushandelte. Nach zwölf erfolglosen Versuchen also im ersten Gespräch direkt der Durchbruch, den sämtliche HSV-Verantwortliche später als lebenswichtig bezeichneten. „Wir freuen uns, dass Herr Kühne dem HSV weiterhin treu zur Seite stehen wird“, gab Hoffmann zwei Monate später stolz zu Protokoll, als die Unterschriften unter dem kompletten Vertragswerk trocken waren.

Der Kern der neuen Übereinkunft: Um sämtliche Darlehens- und Rückzahlungsvereinbarungen aus bereits getätigten Transfers der Ära von Ex-Vorstand Dietmar Beiersdorfer mit einem möglichen Gesamtvolumen von mehr als 50 Millionen Euro abzugelten, zahlte der HSV einmalig fünf Millionen Euro. Somit blieb der heutige Nationalspieler Luca Waldschmidt der einzige Profi, für den der HSV jemals Geld an Kühne zurückgezahlt hat (rund 1,7 Millionen Euro). Im Sommer 2018 wechselte der heutige Benfica-Profi für rund fünf Millionen Euro zum SC Freiburg.

So weit, so gut. Allerdings blieben viele Beobachter trotz gegenteiliger Beteuerungen kritisch, da die Sorge groß war, dass ein Teil des Schweiz-Deals sei, dass Kühne eher früher als später als Gegenleistung weitere Anteile bekommen würde. Die „Bild“ schrieb damals sogar, dass der HSV den Wunsch Kühnes nun prüfen würde, „weitere Anteile an der Fußball AG zu erwerben.“

Kühne will seine HSV-Anteile verkaufen

Die Wahrheit ist allerdings, dass der Unternehmer keine Anteile erwerben will – ganz im Gegenteil. Tatsächlich wurde vor zwei Jahren schriftlich das festgehalten, was Kühne dem Abendblatt auch heute noch versichert: Er will und wollte verkaufen. Die AG-Verantwortlichen ließen sogar ein Gutachten über das ausführliche Vertragswerk anfertigen. Demnach steht in der Vereinbarung zwischen ihm und dem HSV e. V. explizit drin, dass der Verein einerseits Kühne einen Teil seiner Anteile abkaufen dürfte, sofern sie innerhalb von zehn Jahren einen Käufer finden. Andererseits müsste auch der HSV e. V. zustimmen, wenn Kühne einen Käufer, der sämtliche Voraussetzungen und Bedingungen der DFL erfüllt, findet.

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Im Klartext: Die Behauptung, Kühne wolle langfristig seine Anteile aufstocken, ist falsch. Oder besser: überholt. Denn Kühne selbst hatte vor dem Treffen in der Schweiz öfter über ein Ausweiten seiner Anteile gesprochen. Und mindestens genauso wichtig: Der neue Vertrag zwischen Kühne und dem HSV e. V. wurde vom Gesamtpräsidium des HSV geschlossen, also neben Jansen auch von Schulz und Schaefer. Nach Abendblatt-Informationen hat der Unternehmer direkt nach dem Treffen in der Schweiz seinen Vertrauten Frömming beauftragt, der wenig später auch die Interessen Kühnes im Aufsichtsrat der HSV AG vertrat, potenzielle Interessenten für einen Teil seiner Anteile zu finden.

Kühne und das Stadionnamensrecht

Ziemlich genau ein Jahr später gab es dann ein erneutes Elefantentreffen, diesmal in Hamburg. Der HSV hatte gerade hintereinander gegen Karlsruhe, Bochum und Nürnberg gewonnen und war auf Aufstiegskurs. Hoffmann und der damalige Aufsichtsratschef Max-Arnold Köttgen sahen die Möglichkeit gekommen, Kühne davon zu überzeugen, den auslaufenden Vertrag über das Namensrecht am Stadion zu verlängern. Präsident Jansen wurde angerufen – und zu einem Gespräch dazu gebeten. Die Vorstände Wettstein und Jonas Boldt wurden nicht informiert, was später für großen Ärger innerhalb des Vorstands sorgen sollte (Abendblatt berichtete).

Getroffen wurde sich in Kühnes Hotel „The Fontenay“. Neben Kühne, Hoffmann, Köttgen und Jansen ebenfalls beim Gespräch dabei: HSV-Aufsichtsrat Frömming und Ex-Aufsichtsratschef Karl Gernandt. Doch das Gespräch ging nach hinten los. So soll Hoffmann schnell zur Sache gekommen sein und Kühne nahegelegt haben, das Stadionrecht direkt für fünf Jahre kaufen zu sollen. Kühne soll über das Vorpreschen verärgert gewesen sein. Sein damaliger Vorwurf: Er würde immer nur nach Geld gefragt werden, ein schlüssiges Konzept würde ihm allerdings nicht vorgelegt.

Das Ende vom Lied: Ein weiterer Stadiondeal kam nicht zustande, die Gesprächsatmosphäre musste laut Teilnehmern als „sehr frostig“ beschrieben werden – und der Narrativ, der ab sofort (vor allem in den sozialen Medien) die Runde machte, lautete: Man müsse nun unbedingt Kühnes Einfluss begrenzen.

Kühne und sein Einfluss beim HSV

Wie groß (und gefährlich) diese versuchte Einflussnahme in der Vergangenheit war, darüber gibt es wahrscheinlich keine zwei Meinungen. Die prominentesten Beispiele: Der kostspielige Transfer Rafael van der Vaarts 2012, dessen Folgekosten dem HSV in den Folgejahren fast das Genick gebrochen haben. Und die unglückliche Konstellation zwischen Beiersdorfer, Kühne und dessen Berater Volker Struth sowie Reiner Calmund.

Wie klein (und unbedeutend) die versuchte Einflussnahme Kühnes unter der neuen HSV-Führung aber tatsächlich noch ist, zeigt eine Episode aus dem vergangenen Sommer. Damals ließ der milliardenschwere HSV-Fan wissen, dass der HSV doch bitteschön unbedingt Stürmer Simon Terodde verpflichten solle, der – wie praktisch – von Volker Struth vertreten wird. Doch die Millionen-Forderungen klangen astronomisch: Ablösesumme plus Millionengehalt – Sportvorstand Jonas Boldt lehnte dankbar ab, blieb aber am Ball und handelte schließlich Wochen später einen eigenen Deal (ohne finanzielle Hilfe Kühnes) aus. Die Parameter: Der HSV brauchte keine Ablöse zahlen – und der 1. FC Köln muss sogar noch Großteile von Teroddes Gehalt in dieser Saison übernehmen.

Kühnes Einfluss im HSV-Aufsichtsrat

Ende gut, alles gut? Nicht ganz! Denn die Geschichte vom Milliardär, der still und heimlich über den Aufsichtsrat den HSV übernehmen will, war noch immer nicht auserzählt. Und so ist man wieder beim schwelenden Präsidiumsstreit angekommen. Denn seit Präsident Jansen im Dezember Hans-Walter Peters, den Sprecher der Berenberg-Bank, als neuen Kandidaten vorgeschlagen hat, wird hinter den Kulissen erneut gewütet. So sei Peters wahlweise „ein Kumpel“, „ein Erfüllungsgehilfe“ oder „eine weitere Marionette“ Kühnes. Die einzig logische Folge also: Man müsse den kompletten Aufsichtsrat auf links drehen.

Gesagt, getan. Im Dezember schlug das zerstrittene Präsidium also zunächst sechs Aufsichtsratskandidaten vor, vor zwei Wochen legte Schaefer mit einer neuen Liste mit fünf Kandidaten nach. Das kolportierte Ziel: Mit einem modifizierten Aufsichtsrat könnte man auch den Vorstand neu besetzen. Denn dort sei ja immer noch Kühne-Mann Frank Wettstein als Finanzvorstand am Werk.

Der hat Kühne im vergangenen Jahr tatsächlich getroffen. Nach Abendblatt-Recherchen: Einmal, vor ziemlich genau zwölf Monaten. Und telefoniert haben „Kühne-Mann“ Wettstein und Kühne im gleichen Zeitraum: nullmal.

Kühne und die Rechtsformänderung

Was wäre wenn? Diese Frage kommt nun spätestens im Sommer erneut auf den HSV zu, wenn es um die Frage gehen wird, ob der HSV ein zweites Mal nach 2014 seine Rechtsform ändern will. Doch was wäre, wenn auch Investor Kühne genau das will?

Um die Frage vorweg zu beantworten: Er will. Und er garantiert – sogar schriftlich – auch in einer möglichen Kommanditgesellschaft auf Aktien, oder kurz KGaA, immer an der Seite des HSV e. V. zu stimmen. Die Sorge, dass Kühne kurz-, mittel- oder langfristig doch noch den HSV übernehmen will, scheint damit gebannt. Oder doch nicht?

Am Freitagabend hat sich Kühne weder um seine Anteile noch um den Aufsichtsrat und auch nicht um den Präsidiumsstreit gekümmert. Er hat Fußball geguckt. Bei Sky. Erzgebirge Aue gegen den HSV. 45 Minuten lang war er vom HSV begeistert, 45 Minuten lang ärgerte er sich schwarz. Am Ende musste er mit einem 3:3 und der Gewissheit leben, dass man nicht immer gewinnen kann.

„Herr Kühne ist unverändert großer HSV-Fan“, heißt es in dem Statement, das seine Sprecherin schickte. „Er tritt dafür ein, dass keine erneute Unruhe im Gesamtgefüge des Profifußballs aufkommen darf, damit die laufende Saison ungestört und hoffentlich erfolgreich zu Ende gespielt werden kann.“

Was wäre also, wenn der HSV alle Streitigkeiten beiseitelegen könnte und am Ende tatsächlich aufsteigen würde?