Hamburg. Nach dem ersten Saisondrittel verfestigt sich der Eindruck, dass diese Saison statt des Stärksten der am wenigsten Schwache aufsteigt.

Wer Google zurate zieht, der erhält ziemlich schnell ein ziemlich eindeutiges Ergebnis: 34.400.000 Treffer können nicht lügen. So viele Vorschläge erhält man, wenn man die Wörterkombination „die stärkste Zweite Liga aller Zeiten“ in die Suchmaske eingibt. Und tatsächlich: In den vergangenen Jahren gab es kaum einen Saisonstart ohne dieses lieb gewonnene Qualitätssiegel, das ganz frech das Deutsche Sportfernsehen (DSF), das heute Sport1 heißt, 2007 erfunden hatte. Einen seriösen Artikel mit der fetzigen Überschrift „Die schlechteste Zweite Liga aller Zeiten“ sucht man dagegen vergeblich.

Daran hat natürlich auch der 4:0-Sieg des HSV am Dienstag gegen den SV Sandhausen nichts geändert – auch wenn sich der überwiegende Teil der Anhänger über die ergebnisunabhängige Qualität des Geschehens einig war. „Eindeutig vier Tore zu hoch ausgefallen“, schreibt Eric Wegener bei Twitter, Jo Gerner aka Holsten_Edel-HH schreibt trotz des Kantersiegs von einer „unterirdischen Leistung“, und ein gewisser @schultz_dirk meint sogar: „Die haben echt Glück ohne Zuschauer zu spielen.“

Auch im Volkspark am Morgen danach waren sich die wenigen Anhänger einig: Der schaurig-schöne HSV-Sieg war rational kaum erklärbar. Die Hamburger hatten schlecht wie lange nicht gespielt, aber dennoch 4:0 gewonnen und sogar – zumindest für 24 Stunden – die Tabellenführung übernommen. Was soll man also dazu noch sagen?

HSV besiegt Sandhausen – die Bilder:

HSV schießt sich gegen Sandhausen zur Tabellenführung

Kapitäne unter sich: Tim Leibold (r.) vom HSV kommt dem früheren Hamburger Dennis Diekmeier vom SV Sandhausen zuvor.
Kapitäne unter sich: Tim Leibold (r.) vom HSV kommt dem früheren Hamburger Dennis Diekmeier vom SV Sandhausen zuvor. © WITTERS | Valeria Witters
Die HSV-Torschützen Amadou Onana (l.) und Simon Terodde (M.) feiern mit Klaus Gjasula den Sieg gegen Sandhausen und die Rückkehr an die Tabellenspitze.
Die HSV-Torschützen Amadou Onana (l.) und Simon Terodde (M.) feiern mit Klaus Gjasula den Sieg gegen Sandhausen und die Rückkehr an die Tabellenspitze. © Getty Images | Oliver Hardt
Doch HSV-Torwart Sven Ulreich (l.) stand im Spiel gegen Sandhausen öfter im Fokus, als ihm lieb sein konnte.
Doch HSV-Torwart Sven Ulreich (l.) stand im Spiel gegen Sandhausen öfter im Fokus, als ihm lieb sein konnte. © WITTERS | Valeria Witters
Die Tore aber machte nur der HSV – auf Einladung Sandhausens. HSV-Stürmer Simon Terodde (M.) bejubelt sein Führungstor, Kapitän Tim Leibold (r.) prüft noch eine mögliche Abseitsposition.
Die Tore aber machte nur der HSV – auf Einladung Sandhausens. HSV-Stürmer Simon Terodde (M.) bejubelt sein Führungstor, Kapitän Tim Leibold (r.) prüft noch eine mögliche Abseitsposition. © WITTERS | Valeria Witters
Sandhausens Torwart Rick Wulle (r.) streckte sich vergeblich.
Sandhausens Torwart Rick Wulle (r.) streckte sich vergeblich. © WITTERS | Valeria Witters
Später legte Simon Terodde seinen 13. Saisontreffer nach – für ihn bereits der sechste Doppelpack der Saison.
Später legte Simon Terodde seinen 13. Saisontreffer nach – für ihn bereits der sechste Doppelpack der Saison. © WITTERS | Valeria Witters
Oh, là, là, Onana! Der eingewechselte Amadou Onana (l.) erhöhte nach einem Konter gekonnt auf 3:0 für den HSV.
Oh, là, là, Onana! Der eingewechselte Amadou Onana (l.) erhöhte nach einem Konter gekonnt auf 3:0 für den HSV. © Getty Images | Oliver Hardt
So was hat man lange nicht gesehen: HSV-Verteidiger Josha Vagnoman (r.) feiert mit Vorlagengeber Bobby Wood seinen Treffer zum 4:0-Endstand.
So was hat man lange nicht gesehen: HSV-Verteidiger Josha Vagnoman (r.) feiert mit Vorlagengeber Bobby Wood seinen Treffer zum 4:0-Endstand. © Getty Images | Oliver Hardt
HSV-Verteidiger Stephan Ambrosius (l.) spring höher als Julius Biada vom SV Sandhausen.
HSV-Verteidiger Stephan Ambrosius (l.) spring höher als Julius Biada vom SV Sandhausen. © WITTERS | Valeria Witters
HSV-Torwart Sven Ulreich (M.) und Innenverteidiger Toni Leistner (r.) sind sich einig, Kapitän Tim Leibold sucht noch seinen Platz.
HSV-Torwart Sven Ulreich (M.) und Innenverteidiger Toni Leistner (r.) sind sich einig, Kapitän Tim Leibold sucht noch seinen Platz. © WITTERS | Valeria Witters
Der eine war in Hamburg Publikumsliebling, der andere will es werden: HSV-Spielmacher Jeremy Dudziak (l.) und Sandhausens Kapitän Dennis Diekmeier.
Der eine war in Hamburg Publikumsliebling, der andere will es werden: HSV-Spielmacher Jeremy Dudziak (l.) und Sandhausens Kapitän Dennis Diekmeier. © WITTERS | Valeria Witters
HSV-Routinier Aaron Hunt (r.) bemüht sich gegen Sandhausens Denis Linsmayer um Ballkontrolle.
HSV-Routinier Aaron Hunt (r.) bemüht sich gegen Sandhausens Denis Linsmayer um Ballkontrolle. © WITTERS | Valeria Witters
Sandhausens Nikolas Nartey (o.) überspringt HSV-Spielmacher Aaron Hunt.
Sandhausens Nikolas Nartey (o.) überspringt HSV-Spielmacher Aaron Hunt. © Getty Images | Oliver Hardt
HSV-Profi Klaus Gjasula (r., gegen Sandhausens Emanuel Taffertshofer) verzichtete trotz seines Nasenbeinbruchs auf eine Gesichtsmaske – nicht aber auf seinen sturmerprobten Helm.
HSV-Profi Klaus Gjasula (r., gegen Sandhausens Emanuel Taffertshofer) verzichtete trotz seines Nasenbeinbruchs auf eine Gesichtsmaske – nicht aber auf seinen sturmerprobten Helm. © WITTERS | Valeria Witters
HSV-Stürmer Manuel Wintzheimer (l., gegen Emanuel Taffertshofer) war gegen Sandhausen weniger präsent als noch zu Beginn der Saison.
HSV-Stürmer Manuel Wintzheimer (l., gegen Emanuel Taffertshofer) war gegen Sandhausen weniger präsent als noch zu Beginn der Saison. © Getty Images | Oliver Hardt
Dennis Diekmeier (l.) kann HSV-Spielmacher Jeremy Dudziak nur mit unlauteren Mitteln halten.
Dennis Diekmeier (l.) kann HSV-Spielmacher Jeremy Dudziak nur mit unlauteren Mitteln halten. © WITTERS | Valeria Witters
HSV-Verteidiger Josha Vagnoman (r.) begutachtet die Technik von Sandhausens Denis Linsmayer bei der Ballannahme.
HSV-Verteidiger Josha Vagnoman (r.) begutachtet die Technik von Sandhausens Denis Linsmayer bei der Ballannahme. © dpa | Daniel Bockwoldt
Er kennt hier manchen Grashalm: Sandhausens Kapitän Dennis Diekmeier (l.) setzt sich gegen seinen HSV-Amtskollegen Tim Leibold durch.
Er kennt hier manchen Grashalm: Sandhausens Kapitän Dennis Diekmeier (l.) setzt sich gegen seinen HSV-Amtskollegen Tim Leibold durch. © Getty Images | Oliver Hardt
Hier wiederum hält sich Diekmeier (l.) Leibold vom Leib.
Hier wiederum hält sich Diekmeier (l.) Leibold vom Leib. © WITTERS | Valeria Witters
HSV-Verteidiger Stephan Ambrosius (r.) stochert gegen Sandhausens Alexander Esswein nach dem Ball.
HSV-Verteidiger Stephan Ambrosius (r.) stochert gegen Sandhausens Alexander Esswein nach dem Ball. © WITTERS | Valeria Witters
HSV-Verteidiger Josha Vagnoman (l.) behauptet gegen Sandhausens Diego Contento den Ball.
HSV-Verteidiger Josha Vagnoman (l.) behauptet gegen Sandhausens Diego Contento den Ball. © imago images/MIS
HSV-Trainer Daniel Thioune vertraute gegen Sandhausen seinem siegreichen Kader vom Wochenende – und ließ Sonny Kittel draußen.
HSV-Trainer Daniel Thioune vertraute gegen Sandhausen seinem siegreichen Kader vom Wochenende – und ließ Sonny Kittel draußen. © imago images/MIS
Michael Schiele übernahm den SV Sandhausen erst Ende November.
Michael Schiele übernahm den SV Sandhausen erst Ende November. © dpa | Daniel Bockwoldt
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Michael Mutzel hatte da ein paar Ideen. Der Sportdirektor des HSV kam nach der dreiviertelstundenlangen Videoanalyse aus der warmen Kabine in die Kälte – und bot Erklärungsansätze. Mutzel sprach von einer „harten Liga“, einer „schwierigen Liga“ und von einer „merkwürdigen Liga“. Nur von der besten oder schlechtesten Liga aller Zeiten sprach er nicht. „Wir haben wenige klare Chancen zugelassen, unsere Chancen genutzt – und unter dem Strich steht dann ein 4:0. Das fühlt sich auch heute noch gut an. Und entschuldigen müssen wir uns für einen Sieg schon mal gar nicht.“

HSV-Sportdirektor Michael Mutzel (l.) und Trainer Daniel Thioune.
HSV-Sportdirektor Michael Mutzel (l.) und Trainer Daniel Thioune. © imago images/MIS

Natürlich musste er das nicht. Zudem erinnerte der 41-Jährige daran, dass der HSV beim 0:1 vor zwei Wochen gegen Hannover 96 in Unterzahl 70 Minuten lang ein „richtig gutes Spiel“ gemacht, am Ende aber verloren habe. Nun habe „fußballerisch nicht ganz so viel geklappt, aber das Ergebnis passte“.

HSV: Hinten Zweikampfmonster, vorn Terodde

Tatsächlich war es nach dem verlorenen Spiel gegen 96, als die sportliche Führung des HSV die Köpfe zusammensteckte und überlegte, wie man aus dem damaligen Negativstrudel (fünf Partien ohne Sieg, drei Niederlagen in Folge) wieder hinausfinden könnte. Sogar Sportvorstand Jonas Boldt mischte sich persönlich ein – und war sich schnell mit Trainer Daniel Thioune einig: Die Mannschaft brauche mehr Mentalität, Leidenschaft – vielleicht mehr Zweitligigkeit.

Das Erfolgsrezept bei den beiden folgenden Spielen, die beide nicht gut anzuschauen waren, aber gewonnen werden konnten: hinten die Zweikampfmonster Toni Leistner und Stephan Ambrosius, im Zentrum weniger Chichi, mehr Klaus Gjasula – und vorne eine Waffe namens Terodde, Simon Terodde.

Steigt am Ende das am wenigsten schwache Team auf?

„Willkommen in der Zweiten Liga“, sagte Trainer Thioune kurz nach dem Abpfiff am Dienstagabend. „Unser primäres Ziel muss es sein, mit allem, was wir haben, uns in jeden Ball reinzuhauen, wenn er in Richtung unseres Tores geht.“ Dieser Auftrag wurde erfüllt – sowohl gegen Sandhausen als auch am vergangenen Sonnabend beim 2:1 in Darmstadt. Bleibt allerdings trotzdem die Frage, wie lange es gut gehen kann, auf ansehnlichen Fußball zu verzichten.

Eine Antwort fällt nach dem ersten Drittel dieser Saison schwer. So verfestigt sich zunehmend der Eindruck, dass in diesem Jahr nicht unbedingt das stärkste, sondern möglicherweise das am wenigsten schwache Team aufsteigt. Eine Übermannschaft wie in den vergangenen Jahren, als für Clubs wie Stuttgart (2019/20) oder Köln (2018/19) nichts anderes als der Aufstieg zählte, sucht man in dieser Saison genauso vergeblich wie eine kon­stante Überraschungsmannschaft wie zuletzt Bielefeld. Mögliche Anwärter wie Greuther Fürth (0:4 gegen Darmstadt) oder der VfL Bochum (0:2 in Hannover) patzen plötzlich und unerwartet.

Einig sind sich die Beobachter dieser Zweiten Liga über eines: Es ist nicht die Erste Liga. „In der Bundesliga ist das natürlich alles noch mal anders. Da gibt es dann auch finanziell ganz andere Möglichkeiten. Auch ein Club wie Bayer Leverkusen gibt mal eben 25 Millionen Euro für einen Spieler aus“, sagt Mutzel, der aber auch in der Etage darunter einen großen Vorteil sieht: „Die Zweite Liga ist deutlich ausgeglichener.“

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Und wirklich: Auch nach dem zwölften Spieltag traut man zwischen Platz eins (Kiel) und Platz 14 (Darmstadt) fast jeder Mannschaft den Aufstieg zu. Dabei ist auch das kein neues Phänomen dieser Zweiten Liga. So stieg beispielsweise auch vor zwei Jahren der SC Paderborn auf, obwohl dieser seinerzeit nach dem zwölften Spieltag gerade mal auf dem zehnten Rang zu finden war. Mit sieben Punkten Rückstand auf den damaligen Tabellenführer – den HSV.

Dort stand der HSV auch im vergangenen Jahr nach dem zwölften Spieltag. Und seinerzeit hatte der Club unter Dieter Hecking ein echtes Feuerwerk zum Saisonstart abgefackelt, Nürnberg mit 4:0 aus dem eigenen Stadion geschossen, Hannover mit 3:0 bezwungen. Doch am Ende nützte das alles nichts. In der „diesmal aber wirklich stärksten Zweiten Liga aller Zeiten“, wie es die „Zeit“ vor der Saison orakelt hatte, schmierte der HSV hintenheraus völlig ab.

Genau das soll in dieser Spielzeit vermieden werden. Deswegen sind die Verantwortlichen auch nur bedingt darüber beunruhigt, dass die Fans nicht mit guten, überzeugenden oder sogar begeisternden Auftritten verwöhnt werden können. Klar, die Siege gegen Düsseldorf (2:1) und Aue (3:0) waren bemerkenswert, sind aber auch bemerkenswert lange her. Aus den vergangenen acht Spielen waren die fußballerisch besten ausgerechnet ein Remis (2:2 gegen St. Pauli) und eine Niederlage (0:1 gegen Hannover). „Es geht nicht um Dominanz und Ballbesitz. Es geht um gute Ergebnisse“, sagte nun Michael Mutzel – und zahlte drei Euro ins imaginäre Phrasenschwein. Doch stimmen die Ergebnisse auch weiterhin unabhängig vom gebotenen Fußball, heißt es vielleicht wirklich schon bald: Willkommen in der Bundesliga!