Hamburg. Nach dem ersten Saisondrittel verfestigt sich der Eindruck, dass diese Saison statt des Stärksten der am wenigsten Schwache aufsteigt.
Wer Google zurate zieht, der erhält ziemlich schnell ein ziemlich eindeutiges Ergebnis: 34.400.000 Treffer können nicht lügen. So viele Vorschläge erhält man, wenn man die Wörterkombination „die stärkste Zweite Liga aller Zeiten“ in die Suchmaske eingibt. Und tatsächlich: In den vergangenen Jahren gab es kaum einen Saisonstart ohne dieses lieb gewonnene Qualitätssiegel, das ganz frech das Deutsche Sportfernsehen (DSF), das heute Sport1 heißt, 2007 erfunden hatte. Einen seriösen Artikel mit der fetzigen Überschrift „Die schlechteste Zweite Liga aller Zeiten“ sucht man dagegen vergeblich.
Daran hat natürlich auch der 4:0-Sieg des HSV am Dienstag gegen den SV Sandhausen nichts geändert – auch wenn sich der überwiegende Teil der Anhänger über die ergebnisunabhängige Qualität des Geschehens einig war. „Eindeutig vier Tore zu hoch ausgefallen“, schreibt Eric Wegener bei Twitter, Jo Gerner aka Holsten_Edel-HH schreibt trotz des Kantersiegs von einer „unterirdischen Leistung“, und ein gewisser @schultz_dirk meint sogar: „Die haben echt Glück ohne Zuschauer zu spielen.“
Auch im Volkspark am Morgen danach waren sich die wenigen Anhänger einig: Der schaurig-schöne HSV-Sieg war rational kaum erklärbar. Die Hamburger hatten schlecht wie lange nicht gespielt, aber dennoch 4:0 gewonnen und sogar – zumindest für 24 Stunden – die Tabellenführung übernommen. Was soll man also dazu noch sagen?
HSV besiegt Sandhausen – die Bilder:
HSV schießt sich gegen Sandhausen zur Tabellenführung
Michael Mutzel hatte da ein paar Ideen. Der Sportdirektor des HSV kam nach der dreiviertelstundenlangen Videoanalyse aus der warmen Kabine in die Kälte – und bot Erklärungsansätze. Mutzel sprach von einer „harten Liga“, einer „schwierigen Liga“ und von einer „merkwürdigen Liga“. Nur von der besten oder schlechtesten Liga aller Zeiten sprach er nicht. „Wir haben wenige klare Chancen zugelassen, unsere Chancen genutzt – und unter dem Strich steht dann ein 4:0. Das fühlt sich auch heute noch gut an. Und entschuldigen müssen wir uns für einen Sieg schon mal gar nicht.“
Natürlich musste er das nicht. Zudem erinnerte der 41-Jährige daran, dass der HSV beim 0:1 vor zwei Wochen gegen Hannover 96 in Unterzahl 70 Minuten lang ein „richtig gutes Spiel“ gemacht, am Ende aber verloren habe. Nun habe „fußballerisch nicht ganz so viel geklappt, aber das Ergebnis passte“.
HSV: Hinten Zweikampfmonster, vorn Terodde
Tatsächlich war es nach dem verlorenen Spiel gegen 96, als die sportliche Führung des HSV die Köpfe zusammensteckte und überlegte, wie man aus dem damaligen Negativstrudel (fünf Partien ohne Sieg, drei Niederlagen in Folge) wieder hinausfinden könnte. Sogar Sportvorstand Jonas Boldt mischte sich persönlich ein – und war sich schnell mit Trainer Daniel Thioune einig: Die Mannschaft brauche mehr Mentalität, Leidenschaft – vielleicht mehr Zweitligigkeit.
Das Erfolgsrezept bei den beiden folgenden Spielen, die beide nicht gut anzuschauen waren, aber gewonnen werden konnten: hinten die Zweikampfmonster Toni Leistner und Stephan Ambrosius, im Zentrum weniger Chichi, mehr Klaus Gjasula – und vorne eine Waffe namens Terodde, Simon Terodde.
Steigt am Ende das am wenigsten schwache Team auf?
„Willkommen in der Zweiten Liga“, sagte Trainer Thioune kurz nach dem Abpfiff am Dienstagabend. „Unser primäres Ziel muss es sein, mit allem, was wir haben, uns in jeden Ball reinzuhauen, wenn er in Richtung unseres Tores geht.“ Dieser Auftrag wurde erfüllt – sowohl gegen Sandhausen als auch am vergangenen Sonnabend beim 2:1 in Darmstadt. Bleibt allerdings trotzdem die Frage, wie lange es gut gehen kann, auf ansehnlichen Fußball zu verzichten.
Eine Antwort fällt nach dem ersten Drittel dieser Saison schwer. So verfestigt sich zunehmend der Eindruck, dass in diesem Jahr nicht unbedingt das stärkste, sondern möglicherweise das am wenigsten schwache Team aufsteigt. Eine Übermannschaft wie in den vergangenen Jahren, als für Clubs wie Stuttgart (2019/20) oder Köln (2018/19) nichts anderes als der Aufstieg zählte, sucht man in dieser Saison genauso vergeblich wie eine konstante Überraschungsmannschaft wie zuletzt Bielefeld. Mögliche Anwärter wie Greuther Fürth (0:4 gegen Darmstadt) oder der VfL Bochum (0:2 in Hannover) patzen plötzlich und unerwartet.
Einig sind sich die Beobachter dieser Zweiten Liga über eines: Es ist nicht die Erste Liga. „In der Bundesliga ist das natürlich alles noch mal anders. Da gibt es dann auch finanziell ganz andere Möglichkeiten. Auch ein Club wie Bayer Leverkusen gibt mal eben 25 Millionen Euro für einen Spieler aus“, sagt Mutzel, der aber auch in der Etage darunter einen großen Vorteil sieht: „Die Zweite Liga ist deutlich ausgeglichener.“
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Und wirklich: Auch nach dem zwölften Spieltag traut man zwischen Platz eins (Kiel) und Platz 14 (Darmstadt) fast jeder Mannschaft den Aufstieg zu. Dabei ist auch das kein neues Phänomen dieser Zweiten Liga. So stieg beispielsweise auch vor zwei Jahren der SC Paderborn auf, obwohl dieser seinerzeit nach dem zwölften Spieltag gerade mal auf dem zehnten Rang zu finden war. Mit sieben Punkten Rückstand auf den damaligen Tabellenführer – den HSV.
Dort stand der HSV auch im vergangenen Jahr nach dem zwölften Spieltag. Und seinerzeit hatte der Club unter Dieter Hecking ein echtes Feuerwerk zum Saisonstart abgefackelt, Nürnberg mit 4:0 aus dem eigenen Stadion geschossen, Hannover mit 3:0 bezwungen. Doch am Ende nützte das alles nichts. In der „diesmal aber wirklich stärksten Zweiten Liga aller Zeiten“, wie es die „Zeit“ vor der Saison orakelt hatte, schmierte der HSV hintenheraus völlig ab.
Genau das soll in dieser Spielzeit vermieden werden. Deswegen sind die Verantwortlichen auch nur bedingt darüber beunruhigt, dass die Fans nicht mit guten, überzeugenden oder sogar begeisternden Auftritten verwöhnt werden können. Klar, die Siege gegen Düsseldorf (2:1) und Aue (3:0) waren bemerkenswert, sind aber auch bemerkenswert lange her. Aus den vergangenen acht Spielen waren die fußballerisch besten ausgerechnet ein Remis (2:2 gegen St. Pauli) und eine Niederlage (0:1 gegen Hannover). „Es geht nicht um Dominanz und Ballbesitz. Es geht um gute Ergebnisse“, sagte nun Michael Mutzel – und zahlte drei Euro ins imaginäre Phrasenschwein. Doch stimmen die Ergebnisse auch weiterhin unabhängig vom gebotenen Fußball, heißt es vielleicht wirklich schon bald: Willkommen in der Bundesliga!