Hamburg. Anders als unter Dieter Hecking soll der HSV taktisch nicht mehr festgelegt sein. Doch klappt die Theorie auch in der Praxis?

Daniel Thiounes Tagesplan am Montag hatte genau einen Programmpunkt: kein Programm. Nach sieben intensiven Tagen in Österreich wollte der HSV-Trainer den freien Montag nutzen, um selbst mal mit der Familie zu entspannen, abzuschalten und 24 Stunden nicht an Fußball zu denken.

So weit die Theorie. Ob Thioune sein eintägiges Fußball-Sabbatical auch in der Praxis durchgehalten hat, kann nur Ehefrau Claudia beantworten. Wer ihren Mann in den sieben Tagen von Tirol erlebt hat, darf berechtigte Zweifel haben. Fußball-Maniac Thioune nutzte das Trainingslager, um – wie er so oft betont – seine Spieler zu überfrachten.

Er überfrachtete sich aber auch selbst. Die beiden Trainingsplätze von Bad Häring hatten in der vergangenen Woche die Anmutung eines Abenteuerspielplatzes für Fußballprofis. Das Repertoire an Requisiten wurde voll ausgenutzt, um mithilfe von Hütchen, Leibchen und Stangen in allen Farben des Regenbogens Taktikübungen zu erleichtern. Thiounes Hauptziel der vergangenen Woche: „Wir wollen auf gar keinen Fall taktisch festgelegt sein. Uns soll keiner ausrechnen können nach dem Motto: Die spielen immer das Gleiche.“

Beim HSV soll taktisch alles möglich sein

Die Aufarbeitung der vergangenen Saison hatte ergeben, dass der HSV viel zu berechenbar agierte. Ex-Trainer Dieter Hecking setzte überwiegend auf ein 4-2-3-1- oder alternativ ein 4-3-3-System, bei dem er auch das Personal nur selten durchtauschte. Frei nach Konrad Adenauer: „Nur keine Experimente!“

Thioune setzt nun auf das genaue Gegenteil. Dreier-, Vierer-, Fünferkette in der Abwehr. Ein oder zwei Spitzen im Sturm. Kompaktes Mittelfeld oder Spiel über die Flügel. Alles soll – je nach Gegner – möglich sein. „Wir wollen uns nicht festlegen“, sagt Thioune, der im Test gegen Feyenoord Rotterdam (1:0) mit Dreierkette spielte, gegen den VfB Stuttgart (2:3 nach 0:3) mit Viererkette. „Das Gute ist, dass wir viele flexible Spieler im Kader haben.“

Wintzheimer und Amaechi profitieren

Beispiel eins: Manuel Wintzheimer. Das Offensivtalent wurde beim HSV bislang fast ausschließlich als Sturmspitze gesehen. Unter Thioune darf der frühere Bayern-Spieler auch über die Flügel oder aus dem Halbraum als verkappter Zehner spielen. Der Lohn: Drei von fünf Vorbereitungstoren schoss der 21-Jährige.

Beispiel zwei: Xavier Amaechi. Unter Hecking spielte der Engländer keine Rolle. Thioune lässt den Youngster nun nicht nur über den Flügel wirbeln, sondern setzt ihn auch als Achter im zentralen Mittelfeld ein. Mit Erfolg. „Xavier ist ein richtig guter Fußballer mit einem feinen linken Füßchen“, lobt Thioune.

Bilder vom HSV-Trainingslager in Bad Häring:

Doch der Coach weiß auch, dass noch lange nicht alles Gold ist, was da anfängt zu glänzen. Das Umschaltspiel müsse besser werden, sagt er. Im letzten Drittel müsse sein Team sauberer agieren und Offensivstandards habe er noch nicht trainiert.

Ein weiteres Problem: Bislang konnte Thioune seine Ideen nur gegen vermeintlich stärkere Teams wie Feyen­oord, Stuttgart oder Dänemarks Meister Midtjylland testen. Beim Spiel gegen den dänischen Erstligaclub FC Randers, den man auf Augenhöhe erwartet hatte, enttäuschte der HSV.

Die Partie gegen Drittliga-Aufsteiger VfB Lübeck fiel aus. Ob aber nun der HSV, der sich bereits in den ersten zwei Jahren in der Zweiten Liga schwertat, gegen extrem defensiv eingestellte Gegner das Spiel selber machen kann, wird sich frühestens im DFB-Pokal bei Dynamo Dresden zeigen (Montag, 14. September, 18.30 Uhr).

„Reflexionscoach“ Daxl soll Impulse geben

Doch Thioune will in der kommenden Saison nicht nur auf eine flexible Taktik setzen. Der Fußballlehrer will auch das flexible Denken fördern. Deswegen holte der HSV Martin Daxl als Reflexionstrainer dazu. Der Coach, der in den vergangenen Jahren den SC Paderborn unterstützte, hielt in Bad Häring einen beachtenswerten Vortrag, schaute sich alle Trainingseinheiten an und stand Spielern und Trainern im Mannschaftshotel „Das Sieben“ jederzeit zur Verfügung.

Bei seiner internen Vorstellung haben Thioune und Sportdirektor Michael Mutzel explizit darauf hingewiesen, dass Daxl nicht vom Verein angestellt sei. Der in der Szene sehr angesehene Experte soll von außen Impulse geben, festgefahrene Strukturen aufbrechen und für die Spieler eine Vertrauensperson werden.

Thioune will Ewerton wieder aufrichten

Bedarf gibt es sicherlich genug. Exemplarisch zeigt das auch der Fall Ewerton. In den Tagen von Tirol suchte Thi­oune das Gespräch mit dem sensiblen Brasilianer und bat Torhüter Daniel Heuer Fernandes als Übersetzer dazu. „Wir müssen Geduld mit Ewerton haben“, sagte Thioune anschließend. „Die Sache mit dem Tumor hat auch etwas mit seinem Kopf gemacht.“

Direkt nach der Saison wurde dem Innenverteidiger ein gutartiges Geschwulst aus dem Oberschenkel entfernt. Obwohl die Operation gut verlaufen sei, ist Ewerton noch weit entfernt von einer ehemaligen Wettkampffähigkeit. Bei anstrengenden Einheiten musste der Südamerikaner jeweils abbrechen. „Die Fantasie ist da, dass er ein Neuzugang wird“, sagt Thi­oune. „Ewerton muss aber in einem leistungsfähigen Zustand sein.“

Diesen Anspruch hat der 31-Jährige natürlich nicht exklusiv. Thioune glaubt zwar, dass der HSV auch in dieser Saison wieder zum erweiterten Favoritenkreis gehöre. Allerdings müsse auch alles passen, um nach zwei enttäuschenden Jahren das eigentliche Ziel im dritten Anlauf endlich zu erreichen. Und mit Heidenheim, Bochum, Nürnberg, Hannover, den beiden Absteigern Düsseldorf und Paderborn sowie vielleicht noch einem Überraschungsaufsteiger gebe es genügend Mannschaften, die es seiner Mannschaft schwer machen werden.

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Sicher ist nur eines: Thioune wird Vollgas geben – aber erst nach dem freien Montag.