Hamburg. Rudi Kargus hütete in den 70er-Jahren das Tor des HSV und feierte die größten Erfolge. Dann wurde er Maler. Und glücklich.
Egentlich, und das wird Rudi Kargus seit knapp 20 Jahren nicht müde zu betonen, eigentlich haben seine erste und zweite Karriere wirklich gar nichts miteinander zu tun, und wenn es nach ihm ginge, würde er Gespräche über seine erste (als Profifußballer) nicht unbedingt verknüpfen wollen mit seiner zweiten (der Malerei). Aber weil die Welt ist, wie sie nun mal ist, fällt nach der Nennung des Namens Kargus recht schnell das Stichwort „Elfmetertöter“.
Und nicht die „Kathedrale des Irrsinns“. Oder „Spukende“. Oder „Yell“. Die „Kathedrale des Irrsinns“ zum Beispiel lehnt zurzeit noch neben dem Klo. Es ist ein Triptychon aus dem Jahr 2019, alle drei Teile sind sorgfältig in Luftpolsterfolie verpackt und beschriftet, im Oktober ist die nächste Vernissage. Bis dahin ist hier ihr Platz.
Platz gibt es genug im lichtdurchfluteten Atelier von Kargus in einer ehemaligen Scheune im Rantzauer Forst. Ein etwas mitgenommener Vorhang aus Bambusröhrchen baumelt im Eingang, „sonst fliegen mir hier die Vögel herein“, sagt Rudi Kargus und lächelt.
Im Inneren der Scheune ist es kühl, es riecht nach Farbe und Verdünner, nach wenigen Schritten kleben die Schuhsohlen am Teppich. Farbreste. Auf einem Tisch bei der Tür liegen die Pinsel, fein geordnet, Seit an Seit, daneben ein Wirrwarr an Spachteln. Aus der Ecke scheint eine Armee leerer Joghurtgläser ins Innere des Ateliers vorzurücken – kein Zweifel, hier wird gearbeitet.
Wenn man von einer zweiten Karriere spricht, dann ist die erste meist eine ziemlich erfolgreiche gewesen. Bei Kargus, bald 68, muss man sagen: Sie hätte erfolgreicher kaum sein können. Er spielte in der Nationalelf, wurde Meister und Pokalsieger mit dem Hamburger SV, 1977 gewann er den Europapokal der Pokalsieger.
Ein Match vor 60.000 Fans? Konnte er nicht genießen
Es war eine glorreiche Zeit, und Rudi Kargus hätte danach die Füße hochlegen können, ab und an mal als Experte ins Fernsehen, ein guter Job im Verband. Aber nichts davon sprach ihn an. Es war die Welt der Kunst, in die es ihn zog. Ohne dass er es vorher geplant oder geahnt hätte. Weshalb die ersten Schritte eher zögerlich waren, Ende der 90er-Jahre. Aber dann verschlang sie ihn doch noch, mit Haut und Haaren.
Und wenn es überhaupt etwas gibt, das die Kunst und den Fußball miteinander für ihn verbindet, dann ist es dieser eine Aspekt: die völlige Fokussierung, das völlige Verschlungenwerden von einer Welt, die keine zweite neben sich duldet. Ein Zustand, den er mal mit den Worten „wie weggebeamt“ beschrieb – in den großen Momenten seiner ersten Karriere.
Wenn Rudi Kargus malt, kann es sein, dass er über Stunden alles um sich herum vergisst. Auch zu trinken oder zu essen, „und das“, sagt er nachdenklich, „ist sogar noch mehr geworden in den vergangenen Jahren. Noch intensiver. Es nimmt mich immer mehr ein.“
Fast jeden Tag fährt Kargus in sein Atelier
Fast jeden Tag fährt Kargus in sein Atelier, es liegt nur ein paar Autominuten von seinem Zuhause entfernt. Nicht immer, um zu malen, manchmal auch nur, um über ein Bild nachzudenken. Anfang der Nullerjahre begann Kargus’ Weg in die Kunst, es war die Zeit, als Fans anfingen „11 Freunde“ zu lesen und Retro-Adidasjacken im Stadion zu tragen. Kargus hätte zum zweiten Mal in seinem Leben zur Ikone werden können.
Aber er wollte es nicht, und es erzählt eine Menge über den Künstler Rudi Kargus, dass er nie wieder die ganz große Bühne suchte. Er strebte nach etwas anderem. Das ihm seine Freiheit ließ. Seine Ruhe. Beides findet er in seinem Atelier. „Die Freiheit, hier zu sein und das zu machen, was ich gerade machen möchte, das ist entscheidend für mich“, sagt Rudi Kargus. „Hier schaffe ich mir meine Welt.“ In der es keine Termine gibt, keine festen Zeiten. Keine Trainingspläne.
Wenn man dann auf seine Bilder schaut, ist es mit der Ruhe schnell vorbei. Ein Phänomen war es von Anfang an: Wie jung die Kunst von Rudi Kargus ist, als stamme sie von einem 20 Jahre alten Streetart-Künstler aus London. Und Rudi Kargus freut sich, wenn man das sagt, und kann noch nicht einmal sagen warum. Kargus’ Bilder fordern viel von ihrem Betrachter. Sie sind laut, sie passieren, pausenlos. Dinge, die sich zersetzen, Gestalten, die sich abwenden, nicht erkennbar sind, dem Chaos entfliehen – oder selbst das Chaos sind?
Lesen Sie auch:
- HSV gegen St. Pauli vor Zuschauern im Volkspark?
- HSV-Transfers: Warum von Höwedes und Langkamp Abstand genommen wurde
In letzter Zeit, erzählt Kargus, habe er begonnen, sich beim Malen selbst zu beobachten, die emotionalen Zustände, in denen er sich befindet. Wenn der kreative Prozess beginnt, „wenn ich an der einen Stelle etwas mache und das dann sofort zu einem Gedanken führt, was daneben passieren muss, und manchmal tun sich mit einem Mal so viele Stellen auf, dass es fast chaotisch wird“, erklärt er und macht eine Pause. Er schaut einen erwartungsvoll an. Wahrscheinlich, weil er weiß, welche Frage jetzt kommt.
Und wie war das, damals im Fußball? Hat er sich da auch beobachtet, Rudi Kargus, den „Elfmetertöter“?
Für einen Moment schaut er ernst. Oder nachdenklich, es ist nicht einfach zu sagen. Und spricht dann von seinem Kindheitstraum, weil es nicht weniger war als das. Als Torwart in der Bundesliga zu spielen, vielleicht sogar Nationalmannschaft. „Und das war auch toll“, sagt er und greift mit beiden Händen in die Luft, als hielte er dazwischen einen Ball. „Aber wenn ich etwas bedaure, dann, dass ich es nicht genug genießen konnte.
Vor 60.000 Leuten zu spielen, im Bernabéu-Stadion gegen Real Madrid, das hätte man ja eigentlich genießen müssen“, sagt Kargus und holt Luft. „Aber dadurch, dass da immer dieser Druck war – und den habe ich wirklich unglaublich verspürt –, konnte ich es nicht wirklich genießen. So, wie man das vielleicht können müsste.“
Am 16. Oktober wird Rudi Kargus seine neue Ausstellung in der Galerie Holthoff-Mokross in Ottensen eröffnen. Und natürlich werden auch Freunde von damals kommen, Freunde aus der Welt des Fußballs. Solche Momente kann Rudi Kargus inzwischen genießen. Das ist jetzt seine Welt.