Hamburg. In einer neuen Serie schildern erfolgreiche Hamburger Athleten, wie sie den Schritt in die zweite Karriere schafften.
Zwei Dinge fürchten viele Leistungssportlerinnen und -sportler besonders: den Tag des Karriereendes – und den Sprung in die nächste Karriere, der für all diejenigen, die im Sport keine Millionen verdient haben, unerlässlich ist. Wie dieser Schritt gelingen kann, beschreibt das Abendblatt in der neuen Serie „Die zweite Karriere“, die in diesem Jahr in loser Folge erscheinen wird und Geschichten erfolgreicher Athletinnen und Athleten erzählt, die im Leben nach dem Sport angekommen sind.
Zum Auftakt trafen wir in ihrem Büro in Wandsbek die ehemalige Federgewichts-Boxweltmeisterin Ina Menzer. Die 39-Jährige, die mit ihrer Familie im Hamburger Südosten lebt, trat am 24. August 2013 als Weltmeisterin nach 32 Profikämpfen mit nur einer Niederlage zurück, schloss im Jahr darauf ihr 2012 begonnenes Sportmanagement-Studium ab, arbeitete ein halbes Jahr für den Vermarkter Sportfive, gründete mit einem Partner eine eigene Vermarktungsagentur, die sie für die Familiengründung aber aufgab.
Seit 2015 hält die Mutter zweier Töchter – Violetta ist zweieinhalb, Diana ein halbes Jahr alt – als Testimonial für die Barmer-Krankenkasse Vorträge zum Thema Motivation und gibt Boxkurse in Unternehmen. Mit ihrem Mann Denis, der mit seinem Unternehmen „Trade Heroes“ selbstständig im E-Commerce tätig ist, teilt sie sich die Kindererziehung und eine GmbH, in der beide ihre Fähigkeiten einbringen.
Am 23. April wagt Ina Menzer ein Experiment, das ihre berufliche Zukunft neu justieren soll. In der Kaiser-Friedrich-Halle in ihrer Heimatstadt Mönchengladbach tritt sie erstmals als alleinige Rednerin vor großem Publikum auf. In einem 90-minütigen Vortrag, für den Tickets nur online unter www.livebei.de erhältlich sind, spricht sie über Tricks zur Selbstmotivation im Alltag und die Lehren, die sie aus ihrer Karriere gezogen hat. Und ist so aufgeregt wie früher vor großen Titelkämpfen.
Frau Menzer, was ist härter: Vor Publikum zu kämpfen oder vor Publikum zu sprechen?
Ina Menzer: Bislang dachte ich, dass Kämpfen härter ist. Vor jedem meiner Kämpfe hatte ich in der Kabine Beine wie Watte und habe mich beim Walk-in gefragt, wie ich meine Leistung bringen soll. Vor den Vorträgen, die ich für die Barmer bei Unternehmen halte, bin ich zwar auch aufgeregt, aber nicht so wie damals. Das Event in Mönchengladbach ist aber etwas völlig Neues. Da sitzen nicht 50 oder 100 Leute, sondern im Optimalfall knapp 1000, die alle Geld dafür bezahlt haben, nur um mich reden zu hören. Und eineinhalb Stunden sinnvoll zu füllen ist auch etwas anderes als 20 oder 30 Minuten.
Wie bereiten Sie sich auf diese Herausforderung vor?
Ich rede frei, aber brauche eine klare Struktur und viele Spickzettel. Die Vorbereitung auf so einen Vortrag ist vergleichbar mit der für einen großen Kampf. Ich gehe die Rede viele Male vorher durch, habe mir zum ersten Mal eine Trainerin genommen, mit der ich Elemente aufzeichne und analysiere. Das ist wie Sparring. Man muss die Dinge, die man auf der Bühne braucht, viele Male üben, ob die Bühne nun ein Ring oder ein Rednerpult ist. Und das tue ich.
Haben Sie keine Angst, dass Sie an Authentizität verlieren, wenn Sie Dinge zu sehr einstudieren?
Die Gefahr ist da. Aber wenn man die nötigen Mittel nicht immer wieder geübt hat, dann sind sie auch nicht verfügbar, wenn man sie spontan braucht. Authentizität ist mir tatsächlich sehr wichtig, ich möchte mich nicht verstellen. Aber ich bin nicht der Typ, der in eine Herausforderung reinstolpert und mal schaut, wie es läuft. Ich bereite mich intensiv vor. Das war schon in der Schule so, beim Boxen – und auch jetzt.
Zu welchem Zeitpunkt Ihrer Boxkarriere haben Sie begonnen, sich mit dem Leben nach dem Sport auseinanderzusetzen?
2012, als mein damaliger Promoter Universum einen Insolvenzantrag stellen musste. Schon in den Monaten davor war klar, dass die guten Zeiten des Frauenboxens, die ich glücklicherweise miterleben durfte, vorbei waren. Da ich 2010 meinen WM-Titel durch meine einzige Niederlage verloren hatte, war ich zwar noch nicht bereit, sofort aufzuhören, weil ich als Weltmeisterin abtreten wollte. Aber ich wusste, dass es an der Zeit war, ein neues Standbein aufzubauen. Also habe ich ein Fernstudium in Sportmanagement begonnen.
Eigentlich hatten Sie viel früher auf eine berufliche Laufbahn gesetzt, eine Ausbildung als Fremdsprachenassistentin absolviert und ein BWL-Studium begonnen, das Sie im Alter von 23 Jahren aufgaben, um Profiboxerin zu werden, weil Sie der Meinung waren, sich zu 100 Prozent auf Sport konzentrieren zu müssen, um erfolgreich zu sein.
Davon bin ich immer noch überzeugt. Ich habe mich immer damit beschäftigt, was ich nach dem Sport tun würde, vor allem, weil meine Mutter darauf geachtet hat. Aber ich habe das lange vor mir hergeschoben und kann gut verstehen, warum viele das Thema ausblenden. Erst mit dem Wissen, dass meine Karriere mit dem Kampf im August 2013, den wir nach der Universum-Pleite in Eigenregie organisiert haben, beendet sein würde, musste ich beginnen, mich auf den Übergang vorzubereiten. Das war eine sehr harte Phase, aber im Rückblick bin ich sehr glücklich darüber, dass ich mich rechtzeitig gekümmert habe. Auch wenn ich weiterhin glaube, dass das nicht optimal für die sportliche Leistung war. Zum Glück ist es trotzdem gut gegangen.
Was hätten Sie eigentlich getan, wenn Sie verloren hätten und nicht als Weltmeisterin hätten abtreten können?
Das weiß ich nicht. Ich hatte keinen Plan B, Verlieren war keine Option für mich. Ich habe alles auf eine Karte gesetzt.
Fiel Ihnen mit der Vorbereitung auf das
Leben nach dem Sport der Abschied leicht?
Überhaupt nicht, im Gegenteil. Ich habe das Kapitel Profisport zwar mit meinem letzten Kampf abgehakt. Aber das Loch, in das ich fiel, war dennoch riesengroß. Ich wusste nicht, ob das, was ich mir vorgenommen hatte, genauso gut funktionieren oder mich ebenso ausfüllen würde wie das Boxen. Ich bin mit diesen Gedanken schlafen gegangen und aufgewacht. Das war vor allem psychisch eine sehr belastende Phase.
Wie lang hat es gedauert, bis Sie im nächsten Lebensabschnitt angekommen waren?
Das war erst der Fall, als ich begonnen habe, für die Barmer Vorträge zu halten. Die Zeit in der Sportvermarktung war für mich sehr hart. Ich war es nicht gewohnt, von anderen Menschen abhängig zu sein. Im Sport kam es immer nur darauf an, dass ich meine Leistung abrufe. Alles hing von mir selbst ab. Auf einmal musste ich mich mit Dingen herumschlagen, die ich nicht beeinflussen konnte. Das war ungewohnt, auch weil ich kaum Geld verdiente. Als ich dann merkte, dass die Vorträge funktionieren, dass ich dafür gutes Gehalt bekam und dass sie beim Publikum gut ankamen, war ich sehr erleichtert. Heute kann ich sagen, dass ich das zweite Mal mein Hobby zum Beruf gemacht habe. Das empfinde ich als Privileg.
Vielen Sportlern gelingt dieser Schritt nicht, viele tun sich ebenso schwer wie Sie anfangs, etwas Neues zu beginnen. Wie könnte man dem Abhilfe schaffen?
Ich glaube, dass Leistungssportler von der Gesellschaft und der Wirtschaft deutlich besser abgefedert werden könnten. Es wäre wichtig, dass es mehr Unternehmen oder staatliche Stellen gäbe, die bereit sind, Sportler anzustellen und für ihren Sport freizustellen, so wie es die Bundeswehr oder die Bundespolizei tun. Ich mag auch die Idee einer Sportlerrente, dass der Staat während der Laufbahn der Athleten deren Beiträge zur Rentenversicherung übernimmt. Die Sportler treten für ihr Land an, das müsste viel mehr anerkannt werden. Es ist ein Armutszeugnis für unser Land, dass Leistungssport so einen schlechten Stand hat.
Niemand wird gezwungen, Leistungssport zu betreiben. Darf der Antrieb für den Weg in den Leistungssport finanzielle Sicherheit sein?
Nein, und für die allermeisten Sportler geht es um Dinge wie Titel, Ehre und auch Spaß. Aber mit einer finanziellen Rückendeckung hätten die Athleten die Sicherheit, sich während der aktiven Laufbahn zu 100 Prozent auf den Sport konzentrieren zu können und im Anschluss eine Anstellung im Unternehmen sicher zu haben. Die Doppelbelastung aus Sport und beruflicher Ausbildung, die viele Sportlerinnen und Sportler in Deutschland auf sich nehmen, ist nicht zu unterschätzen.
Was wäre der Benefit für die Unternehmen?
Zum einen ein hoher Imagegewinn. Zum anderen hoch motivierte Mitarbeiter mit einer extremen Disziplin, Organisationstalent und Begeisterungsfähigkeit.
Glauben Sie, dass der Profisport Ihnen diese Eigenschaften gegeben hat?
Auf jeden Fall hat er sie verstärkt. Ich komme aus einem strengen Elternhaus, wir kamen aus Kasachstan nach Deutschland, als ich zehn war, in ein fremdes Land mit einer mir unbekannten Sprache. Die Disziplin, es hier zu etwas zu bringen, hatte ich auch schon vor der Leistungssportkarriere. Aber vieles von dem, was mich heute im Berufs- und Privatleben ausmacht, habe ich durch den Sport vertiefen können.
In Ihren Vorträgen sprechen Sie nicht nur über Wege zu mehr Motivation, sondern auch darüber, warum Niederlagen wichtig sind. Wie wollen Sie das beurteilen? Sie haben schließlich nur einen Kampf verloren.
Aber diese Niederlage war extrem schmerzhaft und hat mich mehr gelehrt als zehn oder 20 Siege. Siege habe ich immer schnell abgehakt. Diese Niederlage im Juli 2010 gegen die Kanadierin Jeannine Garside hat mich sehr lang beschäftigt. Letztlich hat sie mich drei Jahre gekostet; bis ich mir 2013 den WM-Titel zurückgeholt habe. Mich wurmt es noch heute, dass ich keinen Rückkampf bekommen habe. Aber ich habe diesen Kampf analysiert und daraus viel mitgenommen, was ich besser machen konnte.
Was war der wichtigste Lerneffekt, über den Sie auch in Ihren Vorträgen sprechen?
In unserer Leistungsgesellschaft sind Niederlagen verpönt, Knicke im Lebenslauf werden zu verheimlichen versucht. Ich verstehe das nicht, denn ich bin überzeugt davon, dass Niederlagen oder Rückschläge Menschen stärker machen, wenn sie die richtigen Schlüsse daraus ziehen. Nur wer aus einer Niederlage nichts lernt, ist ein Verlierer. Der wichtigste Lerneffekt für mich war, die Schuld für meine Pleite nicht bei anderen gesucht zu haben. Ich habe meine Leistung nicht gebracht, habe das aber akzeptiert und war eine faire Verliererin. Darüber bin ich sehr glücklich, denn in Sieg und Niederlage zeigt sich der wahre Charakter eines Menschen.
Viele männliche Leistungssportler wollen nach der aktiven Karriere im Sport bleiben, werden Trainer oder Sportchef. Warum gibt es so wenige Frauen in Leitungsposten im Sport, obwohl es mittlerweile in fast allen Sportarten viele aktive Frauen gibt?
Ich glaube, es liegt daran, dass sich Frauen oftmals Verantwortung nicht in dem Maße zutrauen wie Männer. Frauen überlegen vorher, ob sie die geforderte Leistung bringen können. Männer machen erst einmal, ohne die Konsequenzen zu überblicken. Außerdem glaube ich, dass sich Frauen von den wenigen Männern, die noch immer keine weiblichen Chefs dulden, zu oft beeinflussen lassen. Und eine Rolle spielt sicherlich auch das Thema der Familienplanung. Wer Kinder will, überlässt die Karriere eben doch öfter den Männern. Dazu kommt: Sport mit seinen vielen Reisen und Wettkämpfen am Wochenende ist nicht familienfreundlich für Menschen in Führungspositionen.
Braucht es die Frauenquote, auch im Sport?
Ich bin gegen eine Frauenquote, weil dadurch Quotenfrauen geschaffen werden, die nicht aufgrund ihres Könnens anerkannt werden, sondern weil sie eine Quote erfüllen. Das ist der falsche Weg. Frauen wollen durch Leistung überzeugen, und ich glaube, dass die Gesellschaft sich langsam dahingehend verändert, das auch ohne Quote anzuerkennen.
Warum haben Sie sich konkret gegen eine weitere Karriere im Sport entschieden? Sie hatten doch als Frau im Boxen bewiesen, dass Sie sich dank Ihrer Leistung auch in einer Männerdomäne behaupten können.
Das stimmt. Ich hatte einen Vater, der mich immer gefördert hat, der mir Selbstvertrauen gegeben hat, und das habe ich als Frau im Boxen auch gebraucht. Ich war immer frech, habe mich mit meiner Meinung nie versteckt, aber ich habe auch die entsprechende Leistung gezeigt, die nötig war, um anerkannt zu werden. Aber ich wollte nicht mehr hart körperlich arbeiten, und ich wollte in den ersten Jahren voll für unsere Kinder da sein. Das war eine bewusste Entscheidung für eine neue Herausforderung.
Stört es Sie, immer noch – und wahrscheinlich Ihr Leben lang – als Boxerin bekannt zu sein und nicht als Vortragsrednerin oder Unternehmerin?
Überhaupt nicht. Das Boxen war ein sehr wichtiger Teil meines Lebens, und ich sehe es als Anerkennung, dass die meisten Menschen mich immer damit verbinden werden. Das zeigt, dass ich Spuren hinterlassen habe, und das freut mich.
Glauben Sie, dass Sie auch Vorträge halten, weil Sie das Rampenlicht brauchen?
Da ist mit Sicherheit etwas dran. Wer einmal vor großem Publikum auf einer Bühne stand und das genossen hat, der will diesen Nervenkitzel immer wieder.
Dennoch haben Sie immer Lampenfieber.
Und ich bin dankbar dafür! Diese Aufregung hält mich wach und sorgt dafür, dass ich das Beste aus mir heraushole. Wenn ich ruhig war vor Herausforderungen, war meine Leistung schlecht. Deshalb ist das Lampenfieber so wichtig.
Wo sehen Sie sich in fünf oder zehn Jahren?
Zunächst hoffen wir, dass der Vortrag in Mönchengladbach gut ankommt und wir dieses Konzept in Hamburg und anderen Städten anbieten können. Mönchengladbach ist für mich sehr emotional besetzt. Dort endete meine aktive Boxkarriere, dort soll nun etwas Neues beginnen. Was mir noch fehlt, ist ein Oberbegriff für das, was ich beruflich tue. In fünf Jahren wäre ich gern eine Vortragsrednerin, die sich verstärkt sozial engagiert. Ich habe viele Ideen und möchte eine selbstständige Geschäftsfrau und Mutter sein, die nachhaltig arbeitet.
Seite 1 Menschlich gesehen