Osnabrück. Für seine Heimat Osnabrück lehnte Thioune ein Angebot von Klopp ab. Es gab einschneidende Momente. Eine Spurensuche.
Lothar Gans sitzt vor der Marktschänke im Altstadtviertel von Osnabrück und bestellt sich seinen zweiten Cappuccino, als eine Frau stehen bleibt. „Hallo Lothar. Was sagst du denn dazu, dass der Thioune jetzt in Hamburg ist?“ Gans grinst. Es ist gerade mal 11.30 Uhr, doch in der niedersächsischen 160.000-Einwohner-Stadt an der Hase gibt es an diesem Vormittag nur ein Thema; den Wechsel von Daniel Thioune vom VfL Osnabrück zum HSV.
Und Gans, der Zweitliga-Rekordspieler des Traditionsclubs, wird im Zehn-Minuten-Takt auf den großen Verlust für den Verein und die Stadt angesprochen. „Es freut mich sehr für Daniel“, antwortet Gans der Passantin. „Aber es ist sehr schade für Osnabrück.“
Auf dem Tisch vor Gans liegen Hamburger Tageszeitungen. Und auf allen Titelseiten prangt das Gesicht seines langjährigen Schützlings. „Das macht mich schon stolz“, sagt der 67-Jährige und lächelt erneut. „Offenbar haben wir hier nicht alles falsch gemacht.“ Gans blickt durch die schmale Gasse auf den Marktplatz, im Hintergrund steht das historische Rathaus. Hier hat der VfL all seine Aufstiege gefeiert. So wie zuletzt 2019 mit Trainer Daniel Thioune. Oder 2000 mit Spieler Daniel Thioune.
Daniel Thioune, der Junge aus Osnabrück
Lothar Gans war beide Male dabei. Wenn der ehemalige Manager, der sein gesamtes Fußballleben beim VfL verbracht hat, über den neuen HSV-Trainer spricht, dann denkt er aber vor allem an das Jahr 1996, als er Thioune an die Bremer Brücke holte. Gans war gerade dabei, mit Gerd-Volker Schock den Osnabrücker Neuaufbau in der Regionalliga einzuleiten, als sie bei einem Spiel des benachbarten Verbandsligisten Oesede den jungen Thioune entdeckten. „Daniel war sehr auffällig. Schock hat gleich gesagt: Den holen wir.“ Gesagt, getan.
Es war der Beginn einer Karriere, die wie nur wenige andere mit einem Standort verbunden ist. Thioune, der Junge aus Osnabrück, sollte seinem Verein in den folgenden Jahren große Momente bescheren. Dabei gab es in diesen Jahren immer wieder Situationen, in denen alles anders hätte laufen können. „Entweder du gibst jetzt mal richtig Gas – oder du musst reich heiraten“ ist ein Satz von Gerd-Volker Schock, der Thiounes Laufbahn in dieser Phase prägen sollte. Der Offensivspieler hatte verstanden, dass er mehr machen musste als andere, wenn er sich seine Träume erfüllen will.
Als Thioune fast bei Klopp gelandet wäre
„Der zweite Anlauf zieht sich durch das gesamte Leben des Daniel Thioune“, sagt Harald Pistorius. Der 64-Jährige sitzt an diesem Dienstagmittag im dritten Stock des Verlagshauses der „Neuen Osnabrücker Zeitung“. Pistorius berichtet seit 40 Jahren über den VfL Osnabrück. Er hat Thiounes gesamte Karriere als Spieler und Trainer beim VfL begleitet und weiß, dass der Sohn eines Senegalesen und einer Deutschen sich alles hart erarbeiten musste und einige Umwege gehen und Widerstände überwinden musste.
Im zweiten Anlauf schaffte Thioune den Durchbruch im Profifußball. Im zweiten Anlauf erhielt er die Zulassung für den DFB-Fußballlehrer-Lehrgang. Und wenn man so will, ist Thioune jetzt im zweiten Anlauf Trainer des HSV geworden, auch wenn er vor einem Jahr nichts davon wusste, dass er beim HSV bereits auf der Kandidatenliste stand.
Am vergangenen Wochenende zögerte Thioune daher nicht lange, als sich Jonas Boldt bei ihm meldete. „Ich werde den Fehler nicht noch einmal machen, Osnabrück zu spät zu verlassen“, hat Thioune mal über seine Karriere gesagt. 20 Jahre ist es her, dass der begehrte Offensivspieler im Büro von Rudi Assauer saß. Der berühmte Schalke-Manager wollte den damaligen Drittligaspieler nach Gelsenkirchen in die Bundesliga holen.
Auch Jürgen Klopp hatte die Idee, Thioune für Mainz 05 zu verpflichten. Doch Thioune konnte und wollte seine Heimat nicht verlassen. Auch wenn er das später bereuen sollte. Hier in Osnabrück war er zu Hause. Hier ist er aufgewachsen und zum Mann geworden. Hier hat er das Fußballspielen erlernt.
Thioune: Schon als Spieler ehrgeizig
„Daniel weiß, wo sein Wurzeln liegen“, sagt Lothar Kaschner, als er am Dienstagnachmittag im Vereinsheim des SC Schölerberg sitzt und auf die Sportanlage blickt, auf der er vor 30 Jahren den jungen Thioune beobachtete. Kaschner ist ein stadtbekannter Postbote. Vor allem aber arbeitet er seit mehr als vier Jahrzehnten für seinen Verein, der damals noch Post SV Osnabrück hieß.
Thioune wohnte als Jugendlicher mit seinen Eltern nur wenige Hundert Meter von der Sportanlage entfernt. Als Kind hatte er zuvor beim SV Rasensport und beim OSC gespielt. Doch dann verging ihm die Lust am Fußball. „Ich war körperlich noch nicht so weit entwickelt, konnte nicht Paroli bieten. Dann verliert man den Spaß. Ich hatte aufgehört. Und dann kam eines Tages Lothar Kaschner“, erzählte Thioune mal im Rückblick.
Der Jugendleiter des Post SV sah den Jugendlichen alleine auf seiner Anlage spielen, sprach ihn an und überzeugte ihn schließlich, wieder im Verein zu spielen. „Er hat hier den Spaß am Fußball wiedergefunden“, sagt Kaschner und schenkt sich eine Tasse Kaffee ein. In einem Jahreskalender von 1987 sucht er nach dem jungen Daniel.
„Er war schon damals extrem ehrgeizig“, erinnert sich Kaschner, der noch heute mit Thioune Kontakt hält. In benachbarten Sutthausen lebt der neue HSV-Trainer mit seiner Frau Claudia und seinen Kindern Hanna und Joshua, der dort auch in der Jugend spielt.
Thioune weiß, wie man Spieler besser macht
Und wann immer es die Zeit zulässt, schaut Thioune auf der Sportanlage seines Jugend- und Herrenvereins in Schölerberg und bei Lothar Kaschner vorbei. „Ich werde nie vergessen, wie er mich mal anrief, weil er für den Trainerschein eine Bestätigung brauchte, dass er hier mal als Trainer gearbeitet hat“, erzählt Kaschner. Tatsächlich hatte Thioune schon in seinen ersten Herrenjahren in der Bezirksklasse die ersten Versuche als Trainer gestartet. „Er war schon immer akribisch. Dass er mal beim HSV landet, hätte ich aber nie gedacht.“
Am Stadion an der Bremer Brücke regnet es an diesem Nachmittag. Ein paar Anhänger sitzen vor dem Fanshop um die Ecke der Ostkurve. Hier stehen die eingefleischten Fans des VfL. Auch Daniel Thioune ging als Junge mit seinem vor einem Jahr gestorbenen Vater ins Stadion. Schon damals wusste er, dass er mal auf dem Rasen stehen will. Auf der Außenseite des Stadions hängen riesige Bilder der „Helden der Bremer Brücke“. Erich Gleixner, Wolfgang Kaniber, „Addi“ Vetter. Spieler aus der Nachkriegszeit. Möglich, dass irgendwann mal Thioune oder Lothar Gans hier hängen.
„Ich bin sicher, dass der HSV mit Daniel den richtigen Mann gefunden hat. Er weiß, wie man Spieler besser machen kann“, sagt Gans vor der Marktschänke. Der ehemalige Manager arbeitet selbst als Trainer. Aber erst als er mit Thioune einen Ausflug machte, lernte er, wie die Fußballlehrer heute ausgebildet werden.
In der vergangenen Saison rief Thioune bei Gans an und fragte ihn, ob er Lust habe, mit nach Bielefeld zu kommen. Gans hatte Lust. Als die beiden auf der Tribüne saßen und den Zweitligakonkurrenten beobachteten, erklärte ihm Thioune immer wieder seine Spielideen. „Das hat richtig Spaß gemacht. Das habe ich abends sogar meiner Frau erzählt“, sagt Gans. Wie denn die Ideen des Trainers aussehen? Ganz genau will Gans darauf nicht eingehen, sagt aber: „Daniel hat eine Fantasie für das Spiel.“
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Rührender Abschiedsbrief an Thioune
Harald Pistorius beschreibt Thioune als einen zugänglichen Trainer. Als der Chefcoach vor einem Jahr den Aufstieg schaffte, saß er mit seinem Co-Trainer Merlin Polzin einen halben Tag bei Pistorius und erzählte ihm fast alles über seine erfolgreiche Mission. Wie er vor der Saison mit der Mannschaft in die Natur fuhr und am Lagerfeuer den Teamgeist entwickelte. Pistorius, der in seiner Zeit in Osnabrück viele Trainer hat kommen und gehen sehen, war von Thiounes Arbeit beeindruckt. „Ich halte von ihm als Trainer und Mensch sehr viel.“
Die HSV-Trainer seit 2008
Vor der Redaktion hängen die Zeitungsseiten vom Dienstag in einem Glaskasten. Auf der ersten Sportseite steht auch ein Abschiedsbrief von Pistorius an Thioune. „Mach’s gut, Daniel. Wir werden dich vermissen“, schreibt Pistorius. Worte, die man in einer Zeitung über einen Trainer nur selten liest.