Heidenheim. HSV-Trainer weicht auf Frage nach persönlichen Schicksal aus. Ein Hamburger kommt aus dem Kopfschütteln nicht mehr raus.
Die letzte Szene des Nachmittags war bereits eine knappe Stunde vorbei, als Julian Pollersbeck das eben Geschehene noch immer nicht wahrhaben wollte. Der baumlange Torhüter des HSV saß mit einem Pappteller in der Hand zusammengekauert im Gepäckfach des Mannschaftsbusses und schüttelte immer wieder mit dem Kopf.
1:2 hatte seine Mannschaft gerade das direkte Duell beim 1. FC Heidenheim verloren. Wieder einmal durch einen Treffer in der letzten Minute der Nachspielzeit. Und wieder einmal droht der HSV damit eine komplette Saison auf der Zielgeraden zu verspielen. Und Pollersbeck? Schüttelte nur den Kopf.
HSV-Trainer Hecking war wütend auf die eigene Mannschaft
Fast parallel zu Pollersbecks exzessivem Kopfschütteln saß HSV-Trainer Dieter Hecking in den Katakomben der verwaisten Voith-Arena und tat sich ähnlich schwer, die richtigen Worte für den herben Rückschlag im Aufstiegskampf zu finden. „Es war ein sehr, sehr bitterer Nachmittag für uns“, sagte schließlich der Fußballlehrer, dem man den vierten Last-Minute-Schock in der Nachspielzeit seit dem Corona-Neubeginn deutlich anmerkte.
Doch Hecking war nicht nur bitterlich enttäuscht, er war wütend. „Das hat nichts mit Glück oder Pech zu tun. Das ist einfach schlecht verteidigt von uns“, übte der Coach deutlich Selbstkritik am Abwehrverhalten seiner Mannschaft. „Wir sind in einer Situation nach vorne gegangen, in der man einfach nicht nach vorne gehen darf“, schimpfte Hecking. „Das war schlecht verteidigt – und deswegen wurden wir zu Recht bestraft.“
HSV verliert das Schicksalsspiel in Heidenheim
Dreifach bestraft – wenn man es genau nimmt. Zum einen hatte der HSV zum wiederholten Male einen möglichen Sieg nach einer verdienten Führung (46./Joel Pohjanpalo) aus der Hand gegeben, den eine Spitzenmannschaft einfach nicht aus der Hand geben darf. Zum anderen hatte parallel auch noch der VfB Stuttgart sein Auswärtsspiel souverän mit 6:0 beim 1. FC Nürnberg gewonnen, wodurch die Stuttgarter neben den Bielefeldern nun als zweiter Aufsteiger praktisch feststehen.
Doch drittens tat den Hamburgern mit Abstand am meisten weh: Durch die Pleite in der Provinz kann der HSV nicht einmal das Minimalziel des Relegationsplatzes aus eigener Kraft am letzten Spieltag erreichen.
Ausgerechnet gegen den 1. FC Heidenheim
Einfach so das Handtuch werfen wollte Trainer Hecking kurz vor der Abfahrt zum Stuttgarter Flughafen allerdings nicht. „Eine kleine Chance ist ja immer noch da“, sagte der 55-Jährige – und erinnerte daran, dass die Heidenheimer ja auch erst einmal am kommenden Sonntag beim Spitzenreiter Arminia Bielefeld bestehen müssten. „Wichtig ist aber natürlich auch, dass wir als Grundvoraussetzung unser Spiel gegen Sandhausen gewinnen müssen“, schränkte der verärgerte Hecking ein.
Doch genau an dieser Stelle wird es problematisch. Denn wie soll man eine Mannschaft aufrichten, die in kürzester Zeit so viele K.-o.-Schläge verkraften musste? Der ärgerliche Ausgleichstreffer zum 2:2 in der 94. Minute gegen Fürth, das traumatische 2:3 in der 92. Minute gegen den VfB, das dramatische 3:3 in der 94. Minute gegen Holstein Kiel. Und nun schon wieder das unglaubliche 1:2 in der 95. Minute gegen Heidenheim. Ausgerechnet gegen den 1. FC Heidenheim.
Der HSV ließ im ersten Durchgang kaum eine Heidenheim-Chance zu
„Heja, FC Heidenheim“, grölten derweil die Überraschungssieger so laut in ihrer Mannschaftskabine, dass die Jubelgesänge bis zum abfahrbereiten HSV-Mannschaftsbus vor dem Stadion zu hören waren. „Jedem einzelnen Spieler von uns war nach dem Treffer zum 1:1 klar, dass da heute noch mehr drin ist“, sagte Heidenheims sonst so reservierter Trainer Frank Schmidt. „Es ist unfassbar. Ein Riesenkompliment an die Mannschaft. Großartig! Das war ein Erlebnis heute. Wir haben es jetzt in der eigenen Hand.“
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Das hatte am Sonntagnachmittag lange Zeit auch der HSV. Hecking hatte sich zunächst für ein defensives 3-5-2-System entschieden, mit dem er gegen das Überraschungsteam der Zweiten Liga vor allem kompakt stehen wollte. Und die Idee mit der überraschenden Formation (mit Jordan Beyer in der Dreierkette, Jan Gyamerah auf dem rechten Flügel und Gideon Jung als zusätzlichem Staubsauger) sollte zunächst auch aufgehen. Der HSV ließ im ersten Durchgang kaum eine Heidenheim-Chance zu, erspielte sich selbst aber alleine in der ersten halben Stunde 5:0 Ecken.
Als die Hamburger Überlegenheit direkt nach dem Wiederanpfiff mit Pohjanpalos Blitztreffer zum 0:1 sogar belohnt wurde, deute zunächst noch wenig auf das bittere Ende hin. Erst als Hecking Mitte der zweiten Halbzeit mehrfach wechselte, änderte sich wie schon in manch einem Spiel in den vergangenen Wochen die Statik der Partie. Ähnlich wie 13 Tage zuvor, als Außenseiter Kiel den HSV in den letzten 20 Minuten des Spiels fast im eigenen Sechzehner förmlich einschnürte, setzten jetzt auch die Heidenheimer alles auf eine Karte – und wurden belohnt.
Hecking: „Es liegt nicht am Fußballgott. Es liegt an uns.“
Erst war es Tim Kleindienst, der nach einer scharfen Hereingabe am schnellsten schaltete und Jordan Beyer zu einem Eigentor zwang (80.). Und eine Viertelstunde später war es schließlich der eingewechselte Konstantin Kerschbaumer, der für den letzten Tusch des Tages sorgte. 2:1 – und Abpfiff.
Ob er so kurz nach diesem Ereignis bereits wisse, inwiefern ihm persönliche Konsequenzen durch diese Niederlage und das mögliche Aus im Aufstiegsrennen nach dem Saisonende drohen, wurde Hecking wenige Sekunden später von einem Sky-Reporter gefragt. Der HSV-Trainer, dessen Vertrag im Falle des Nicht-Aufstiegs zum Saisonende kündbar ist, steckte die Hände in die Hosentaschen und schüttelte nur mit dem Kopf.
„Ich weiß nicht, was der Fußballgott mit diesem HSV noch vorhat“, hatte Torjäger Pohjanpalo kurz zuvor gesagt. Darauf angesprochen, schüttelte Hecking ein letztes Mal mit dem Kopf. „Es liegt nicht am Fußballgott“, sagte der fassungslose Trainer. „Es liegt an uns.“
Genau das ist wohl das größte Problem des HSV. Einerseits. Andererseits ist es vielleicht auch die letzte Chance.