Hamburg. Wie vor einem Jahr kann Heckings Team die Patzer der Konkurrenz nicht ausnutzen. Geht der Aufstiegskampf erneut verloren?
Dieter Hecking hatte sich die Worte genau zurechtgelegt. Der erfahrene HSV-Trainer wollte unbedingt den richtigen Ton treffen. Also sprach er von „einer gewissen Demut“, aber auch von einem „Gefühl der Vorfreude“. Wichtig sei, so Hecking, dass seine Spieler mit anpacken „und den besonderen Anforderungen des Standorts Hamburg gerecht werden.“ Und dann hatte der Coach noch eine Botschaft: „Wir brauchen 100 Prozent Identifikation und eine positive Grundstimmung.“
All das hat Dieter Hecking am 17. Juni gesagt. Allerdings nicht am 17. Juni 2020, am Tag nach dem enttäuschenden 1:1 gegen den VfL Osnabrück. Sondern am 17. Juni 2019, am Tag seines offiziellen Arbeitsantritts in Hamburg. Genau ein Jahr ist dieser Tag nun her – und wahrscheinlich hätte sich Hecking seinerzeit nicht ausmalen können, dass er auf den Tag zwölf Monate später noch immer um diese „positive Grundeinstellung“ kämpfen muss.
Innerhalb eines Jahres kann viel passieren. Beim HSV sowieso. Da wird die Identität eines Spielers angezweifelt, die größte Krise des Fußballs bricht aus – und inmitten dieser Krise schmeißt man auch einfach mal den Vorstandsvorsitzenden raus. Doch anders als in den vergangenen Jahren darf Hecking mit Fug und Recht behaupten, dass er und seine Mannschaft all diese großen und kleinen Krisen des HSV ziemlich gut gemeistert haben. Wäre da nicht diese verflixte Fußballkrise auf dem Spielfeld.
Auch die Konkurrenten des HSV stolpern mehr schlecht als recht in Richtung Ziellinie
1:1 gegen Osnabrück. Gegen die mit Abstand schlechteste Mannschaft der Rückrunde. Und das dummerweise auch noch ziemlich verdient. So muss man zwei Spieltage vor Schluss schon sehr lange suchen, um noch immer wirklich Positives beim HSV zu finden. Das wahrscheinlich Positivste: die Ergebnisse und Auftritte der Gegner. Denn obwohl der HSV seit dem Corona-Neustart bei sieben Versuchen nur mit viel Mühe und Not gegen die jeweiligen Tabellenschlusslichter Wehen Wiesbaden (3:2) und Dynamo Dresden (1:0) gewinnen konnte, bleiben die Hamburger erstaunlicherweise mittendrin statt nur dabei im Aufstiegsrennen. Der Hauptgrund: Abgesehen von Tabellenführer Bielefeld, dem der Aufstieg nicht mehr zu nehmen ist, stolpern auch die Konkurrenten mehr schlecht als recht in Richtung Ziellinie. Daran ändert auch Stuttgarts souveräner 5:1-Sieg (zwei VfB-Tore durch González, je einmal Castro und Al Ghaddioui sowie ein Eigentor durch Kister) am Mittwochabend gegen Sandhausen nichts.
Die Bilder des Spiels gegen Osnabrück:
Unentschieden gegen Osnabrück – HSV bangt um den Aufstieg
Von den 21 Spielen, die der HSV, der VfB und Heidenheim zusammengerechnet seit dem Corona-Neustart absolvieren mussten, konnten die Favoriten insgesamt gerade einmal acht Partien gewinnen. Durchschnittlich 62,33 Punkte brauchte man für den direkten Aufstieg seit der Einführung der Drei-Punkte-Regel (1995) – doch davon ist das Trio Infernal weit entfernt. Das Schneckenrennen um den Aufstieg nimmt fast schon historische Züge an – und erinnert fatal an eine andere Spielzeit mit ähnlich schwacher Punkteausbeute: an die Saison im vergangenen Jahr.
Am vorletzten Spieltag steht erneut ein Duell mit dem direkten Konkurrenten an
Seinerzeit stolperten Paderborn, Union Berlin und der HSV ziemlich dilettantisch bis ins Ziel – und auch seinerzeit hätte der HSV am vorletzten Spieltag beim direkten Konkurrenten (damals Paderborn) alles klarmachen können. Am Ende verlor der HSV sang- und klanglos 1:4, was Ex-Vorstandschef Bernd Hoffmann später dazu veranlasste, vom „überflüssigsten Nicht-Aufstieg der Geschichte“ zu sprechen. Sein vernichtendes Fazit damals: „Es handelt sich um ein Systemversagen. Unser gesamtes Sportsystem ist kollabiert.“
Geschichte wiederholt sich nicht? Genau das müssen Hecking und seine Mannschaft in den letzten beiden (oder sogar vier) Spielen dieser Saison beweisen. Am vorletzten Spieltag steht nun am Sonntag erneut ein Duell mit dem direkten Konkurrenten an. Das Paderborn von gestern ist nun das Heidenheim der Gegenwart. „Wie ich den Saisonverlauf von uns, Stuttgart und Heidenheim sehe, wird es bis zum Saisonende ein Show-down bleiben“, sagte Hecking nach dem ernüchternden Remis gegen Osnabrück, was nicht gerade für ultimative Überzeugung in die eigene Stärke spricht. Denn bei einem Sieg in Heidenheim wäre seiner Mannschaft zumindest der Relegationsplatz nicht mehr zu nehmen.
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Auf den Tag ein Jahr nach seinem Dienstantritt machte Hecking am Mittwoch also das, wofür er nun mal geholt wurde: Er leitete das Training. Gegen 11 Uhr trabten die Ersatzspieler auf den Platz – genau beobachtet von Jonas Boldt. Der Sportvorstand wird es dann auch sein, der bereits in Kürze die Saison abschließend bewerten muss. Bleibt zu hoffen, dass Boldt – anders als Hoffmann – in zwei bis drei Wochen nicht von einem „Systemversagen“ sprechen muss.
HSV – VfL Osnabrück: die Statistik
Am Mittwoch war jedenfalls noch nichts von kollabierenden Systemen zu hören. „Wir wussten von Anfang an, dass es ein steiniger Weg werden würde“, sagte Boldt. „Dieser Weg wird steinig bleiben, wenn wir aufsteigen. Und er bleibt steinig, wenn wir nicht aufsteigen.“ Boldt nervt das hamburgische Schwarz-Weiß-Denken: „Mir ist wichtig, dass wir nach einem schlechten Spiel nicht in eine tiefe Depression verfallen und nach guten Spielen nicht euphorisch werden. Genau das ist in der Vergangenheit viel zu oft beim HSV passiert.“ Seine sinngemäße Forderung bis Saisonende: Demut, Vorfreude, Identifikation. Und natürlich eine positive Grundeinstellung.