Hamburg. Gegen den Angstgegner kassieren die Hamburger den nächsten späten Nackenschlag und verpassen eine große Chance.
Dieter Hecking stand vor Bastian Dankert und redetet auf den Schiedsrichter ein. Der HSV-Trainer wollte nicht wahrhaben, was nur wenige Minuten zuvor passiert war. Es lief die vierte und letzte Minute der Nachspielzeit, als Holstein Kiel noch einen langen Ball in den Strafraum schlug. Und plötzlich stand Lee Jae-Sung frei vor Julian Pollersbeck und drückte den Ball zum 3:3 (2:1) über die Linie. Wieder die Schlussminute. Wieder der Knockout für den HSV. Wie schon in Fürth. Wie schon in Stuttgart.
„Natürlich sind wir enttäuscht, dass wir erneut in der Nachspielzeit wichtige Punkte liegen lassen“, sagte HSV-Trainer Hecking bei Sky. „Wir haben am Ende das Fußballspielen eingestellt und keine Ruhe in unser Spiel reinbekommen, dafür wurden wir bestraft.“
Dabei hatten die Hamburger, die mit einem Sieg auf Aufstiegsplatz zwei hätten springen können, Moral gezeigt und das Spiel gegen Holstein Kiel gedreht. Doch es sollte mal wieder nicht sein. Mit Tränen in den Augen stapfte HSV-Verteidiger Rick van Drongelen vom Platz. „Mir tut der HSV gerade echt leid“, sagte der frühere HSV- und Kiel-Sportchef Ralf Becker bei Sky. „Er hat heute ein gutes Spiel gemacht. Ein Sieg wäre verdient gewesen. Da muss man kurz mal durchschnaufen“, sagte Becker.
HSV nutzt gegen Holstein Kiel Steilvorlage nicht
Wenn man ehrlich ist, dann begann der Kampf um die Punkte gegen Kiel nicht erst am Montagabend um 20.30 Uhr auf dem Platz. Sondern bereits am Sonntagnachmittag um 15.20 Uhr in den Köpfen. Zu dem Zeitpunkt standen die Patzer der Konkurrenten Stuttgart (0:0 gegen Osnabrück) und Heidenheim (1:2 in Hannover) fest – und das allseits bekannte Spielchen „Kann der HSV diesmal die Steilvorlage nutzen?“ begann.
Fast schon eine schicksalhafte HSV-Frage, die grundsätzlich wohl nur ein brillanter Geist wie Fever-Pitch-Autor Nick Hornby („Es muss viele Väter überall im Land geben, die die grausamste und niederschmetterndste aller Ablehnungen erleben mussten: Ihre Kinder wurden zu Anhängern des falschen Teams …“) beantworten kann.
Der HSV gegen Kiel in der Einzelkritik
Fußballliterat Hornby fand sich am Montagabend aber natürlich genauso wenig auf der verwaisten Tribüne des Volksparkstadions wieder wie die HSV-Gladiatoren Christoph Moritz, Jairo Samperio und Tom Mickel. Dem HSV-Trio wurde der geringe Krankenstand und der erhöhte Konkurrenzkampf zum Verhängnis, wobei zumindest die Nichtberücksichtigung vom Anfeuerungschef Mickel leicht überraschte.
Statt der bisherigen Nummer zwei im Tor durfte gegen Holstein wieder die eigentlich Nummer eins auf die Bank, nachdem Daniel Heuer Fernandes zuletzt sogar zur Nummer drei degradiert wurde. Lange Rede, kurzer Sinn: Im Tor stand erneut wenig überraschend Pollersbeck.
HSV und Kiel knien – Sky zeigt Werbung
Vor dem Anpfiff knieten die Spieler beider Mannschaften nach dem Vorbild von Colin Kaepernick am Mittelkreis nieder, um nach der brutalen Tötung des Afroamerikaners George Floyd durch Polizeigewalt ein Zeichen gegen Rassismus zu setzen. Dass Sky während der Schweigeminute eine Werbepause einlegte, sorgte bei vielen Usern für Unverständnis.
Das Spiel selbst ging mal wieder nicht gut los für den HSV. Nach einem fatalen Fehlpass Bakery Jattas kam wenige Sekunden später Kiels Alexander Mühling zum Abschluss. „HSV 0 – Kiel 1“ stand auf der Anzeigentafel – und das nach nicht einmal neun Minuten.
Die notorischen Zweifler, die sich Hornby-mäßig schon vor dem Anpfiff sicher waren, dass der HSV seine Vorlage nicht nutzen würde, wurden in den Minuten danach allerdings eines Besseren belehrt. Die Reaktion auf den frühen Rückstand hatte es sich. Zunächst war es Rick van Drongelen, der sich sieben Minuten nach dem 0:1 über sein vermeintliches Ausgleichstor freuen durfte, ehe im fernen Köln auf Abseits entschieden wurde, weil Jatta Torwart Gelios die Sicht versperrte.
HSV dreht den Rückstand
Dass der HSV mittlerweile mit Rückschlägen umgehen kann, hatten die Hamburger schon beim 3:2-Sieg gegen Wiesbaden gezeigt. Und auch diesmal stimmte die Einstellung – und das Glück. Denn als Sonny Kittel erneut nur wenige Minuten später im Strafraum von Phil Yannik Neumann einen Ellbogen ins Gesicht bekam, entschied Schiedsrichter Bastian Dankert auf Strafstoß. Eine harte Entscheidung, die diesmal allerdings nicht aus Köln revidiert wurde. Aaron Hunt ließ das alles kalt – und vollstreckte aus elf Metern eiskalt (21.).
Das Gegenteil von eiskalt erlaubte sich Kiels Fabian Reese nur 120 Sekunden später auf der Gegenseite. Der Offensivmann brachte das Kunststück fertig, eine scharfe Hereingabe aus zwei Metern (!) über statt in das Tor zu schießen. Wie man es besser macht, zeigte nicht einmal 60 Sekunden später Joel Pohjanpalo, der eine herrliche Kombination von van Drongelen über Tim Leibold zur 2:1-Führung vollendete.
Auch nach dem Seitenwechsel blieb der Unterhaltungswert groß. Zunächst musste erneut der Kölner Keller nach einem mutmaßlichen Foul von Jae Sung Lee an Timo Letschert eingreifen und einen fälschlicherweise verhängten HSV-Strafstoß zurücknehmen. Stattdessen fing sich der HSV auf der anderen Seite das 2:2, weil Josha Vagnoman nach einer Lee-Flanke seinen Gegenspieler Emmanuel Iyoha aus den Augen verlor (64.).
Pohjanpalo bringt HSV zweimal in Führung
Es ging weiter hin und her. Auf der Gegenseite schlug wieder Pohjanpalo zu. Der Finne köpfte mit purem Willen eine perfekt getimte Flanke des Ex-Kielers David Kinsombi unhaltbar ins Netz (67.).
War es das? Nein! Hecking wechselte mehrfach. Doch die Wechsel gingen nach hinten los. Die Schlusspointe des Dramas, das Hornby nicht besser hätte schreiben können, setzte wieder Kiel, als Lee in letzter Minute als Letzter lachte.