Hamburg/Herzogenaurach. Aufstieg: Vorentscheidung in den Geisterspielen. Warum jeder gelaufene Meter zählt und welche besondere Fanbotschaft helfen soll.

Es war ein spontaner Einfall. Roland Schunk hatte kurz vor dem Neustart des HSV in Fürth (So., 13.30 Uhr/Sky und im Liveticker bei abendblatt.de) das Gefühl, dass er etwas machen müsse. Also machte er. Der 58-Jährige setzte sich an seinen Rechner, ergoogelte sich die E-Mail­Adres­se des HSV-Hotels HerzogsPark in Herzogenaurach – und schrieb drauf los. „Eigentlich wäre unser Fanclub mit 130 Mann beim Spiel, das im März kurzfristig abgesagt wurde, dabei gewesen“, sagt der 58 Jahre alte HSV-Fan am Telefon. Nun habe er das Bedürfnis gehabt, seinem HSV trotzdem eine Extramotivation mit auf den Weg zu geben. „Nach dieser ganzen Zeit ohne Fußball wollten wir den Jungs zeigen, dass wir ihnen auch beim Geisterspiel die Daumen drücken.“

Gesagt, getan, geschrieben. Genau 100 Worte brauchte Schunk für seine Botschaft: „Auch wenn wir jetzt nicht im Stadion sind: Seid gewiss, mit dem Herzen sind wir bei euch, feuern euch an und fiebern mit, sobald der Ball rollt, freuen uns oder trauern mit euch“, steht in dem Brief, der vom Hotelpersonal Sportdirektor Michael Mutzel übergeben wurde. „Man hat das Gefühl, dass die Leute näher an uns dran sind, obwohl wir ja gerade weit weg sind. Das ist ein echt gutes Gefühl“, sagte der begeisterte Mutzel, der die E-Mail aus Motivationsgründen in der Kabine vorlesen will.

Dieter Hecking war bemüht, vor den Geisterspielen Zuversicht zu verbreiten

Ob die Mannschaft tatsächlich vor dem schwierigen Restart der Zweiten Liga eine Zusatzdosis Motivation vertragen kann, wird man erst am Sonntag überprüfen können. Trainer Dieter Hecking war am Freitag jedenfalls bemüht, vor den anstehenden Geisterspielen Zuversicht zu verbreiten. Stimmung und Bedingungen seien hervorragend. Am Donnerstag habe die Mannschaft „Schlag den Kollegen“ in Anlehnung zur Kultshow „Schlag den Raab“ gespielt, es wurde gegrillt – und an Fußball wurde natürlich auch gedacht. „Wir wollen die Protagonisten sein, die bei den Fans in den heimischen Wohnzimmern für Glücksgefühle sorgen“, sagte der HSV-Coach bei einer Video-Pressekonferenz. „Wir wollen dazu beitragen, dass es vor dem Fernseher nicht ganz so langweilig wird. Und dass der Kühlschrank nach Erfolgserlebnissen geleert werden kann.“

Um seinen gut gefüllten Kühlschrank macht sich Roland Schunk keine Sorgen. Statt im Stadion wird der Vorsitzende des Fanclubs Blue Vikings Franken das Spitzenspiel der Zweiten Liga zwischen dem Tabellenfünften (Fürth) und dem Tabellendritten (HSV) mit einem Kumpel im Wohnzimmer verfolgen. Und schon vor dem ersten Kaltgetränk ist die Zuversicht auch bei ihm groß: „In Fürth gewinnt der HSV 2:1. Und am Ende werden wir auch aufsteigen.“

Mit großen Erfolgen kennt sich der technische Sachbearbeiter aus. Schunk feierte 1982 die deutsche Meisterschaft auf dem Rathausplatz. Er war 1983 in Athen dabei. Und auch beim letzten Pokalsieg 1987 in Berlin fehlte der Franke nicht. „Seit meinem ersten Urlaub in Hamburg bin ich HSV-infiziert“, sagt Schunk. „Einmal HSV, immer HSV!“

Rahmenbedingungen sind gut

Ganz so weit würde Hecking, der nun doch keine Maske während des Spiels tragen muss, nach einem Jahr beim HSV vermutlich noch nicht gehen. Doch vom großen Ziel Aufstieg will sich der HSV-Trainer „nur“ wegen Corona dann auch nicht verabschieden. Am Sonntag könnte bereits die erste Vorentscheidung anstehen: Gewinnt sein HSV, hätten die Hamburger auf den derzeit Fünften Fürth kaum noch einholbare elf Punkte Vorsprung. Und die beiden nächsten Vorentscheidungen folgen bereits an den nächsten beiden Spieltagen: Am kommenden Wochenende kommt Spitzenreiter Bielefeld in den verwaisten Volkspark, vier Tage später muss Heckings Mannschaft beim Zweiten in Stuttgart ran.

Und die Rahmenbedingungen sind nach der achtwöchigen Zwangspause auch ohne Zuschauer gar nicht mal so schlecht. Bis auf die kurzfristigen Ausfälle von Gideon Jung (Probleme mit dem Hüftbeuger), Ersatztorhüter Julian Pollersbeck (Knöchelverletzung) und Dauerpatient Ewerton, die allesamt wieder zurück nach Hamburg gereist sind, kann der Trainer beim Neustart in Fürth aus dem Vollen schöpfen.

Auch die Youngster Xavier Amaechi und Stephan Ambrosius hätten im Quarantäne-Trainingslager in Herzogenaurach einen richtig guten Eindruck hinterlassen. „Das kann sich sehen lassen“, lobte Hecking. Im zentralen Mittelfeld, wo vor allem laufstarke Spieler gebraucht werden, hat er sogar die Qual der Wahl.

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Letzteres ist insofern nicht unwichtig, da in Fürth wortwörtlich jeder gelaufene Zentimeter gemessen und überprüft wird. Der HSV will die Trackingdaten der einzelnen Spieler für wissenschaftliche Forschungszwecke zur Verfügung stellen, um trotz vieler gelaufener Kilometer auch nachweisen zu können, dass während der 90 Minuten kein einziger Spieler länger als die vom Robert-Koch-Institut erlaubten 15 Minuten direkten Kontakt mit anderen hat.

Die HSV-Serie: Was bisher geschah ...

  • In der Theorie wollte der HSV an diesem Wochenende die Rückkehr in die Bundesliga feiern. In der Praxis geht es Corona-bedingt jetzt erst richtig los. Was viele vielleicht längst vergessen haben: Es passierte schon jede Menge in dieser Saison. Hier ein kleiner Überblick – oder wie es bei einer Netflix-Serie heißen würde: Was bisher geschah ...
  • Das erste Tor: Schoss Aaron Hunt. In der achten Minute der Nachspielzeit. 1:1-Duselremis statt Fehlstart gegen Darmstadt. Gerade noch einmal gut gegangen ...
  • Das krasseste Tor: Über Geschmack lässt sich sicher streiten. Doch dem Anlass entsprechend muss an dieser Stelle Sonny Kittels Zaubertor per Lupfer aus dem Hinspiel gegen Fürth hervorgehoben werden. Ein Träumchen.
  • Der erste Skandal: Die Saison war gerade erst ein Spiel alt, als „Sport Bild“ und „Bild“ eine Lawine lostraten, die alles und jeden unter sich zu begraben drohte. Vor allem aber einen: Bakery Jatta. Nachdem dessen Identität öffentlich über Wochen angezweifelt wurde, wuchs das Thema schnell zu einer gesamtgesellschaftlichen Debatte. Jatta wurde beschimpft und ausgepfiffen. Einerseits. Und erfuhr andererseits eine nie da gewesene Solidarität beim HSV. Beweise für die Behauptungen fehlen übrigens bis heute.
  • Der krasseste Skandal: Als sich Fußball-Deutschland mit möglichen Corona-Folgen beschäftigte, beschäftigten sich die HSV-Chefs, nun ja, mit den HSV-Chefs. Die Folge: ein waschechter Führungsstreit. Bernd Hoffmann musste schließlich gehen. Mal wieder.

Im Mannschaftshotel HerzogsPark sollen es noch nicht einmal 15 Sekunden sein. „Die Spieler vom HSV verhalten sich tadellos“, lobt Hotelchef Michael Bläser im Abendblatt-Podcast „HSV – wir reden weiter“. Der Bayern-Anhänger („Daraus mache ich kein Geheimnis“) mutierte in den vergangenen Tagen fast zum HSV-Fan. „Ich bin zwar aus Stuttgart, aber ich drücke dem HSV im Aufstiegsrennen fest die Daumen“, sagt Bläser, der für die am Sonntag nicht nominierten Spieler die Hotelbar zur Public-Viewing-Area in Corona-Zeiten macht.

Das Daumendrücken hat der Hotelgeschäftsführer allerdings nicht exklusiv. Nicht einmal 100 Kilometer entfernt vom Sportpark Ronhof wird HSV-Oberfan Roland Schunk neben seinen beiden Daumen auch Zeige- und Ringfinger drücken. Da hält es der Franke wie beim Brief: „Hauptsache, es bringt Glück.“

Der tägliche HSV-Podcast (diesmal mit HSV-Hotelchef Michael Bläser) ist unter abendblatt.de/hsv-podcast abrufbar. Ab Montag kehren wir wieder zum wöchentlichen, ausführlichen Podcast „HSV – wir müssen reden“ zurück.

Die voraussichtlichen Aufstellungen: Fürth: Burchert – Meyerhöfer, Bauer, Caligiuri, Raum – Sarpei – Seguin, Green – Hrgota, Keita-Ruel, Nielsen. HSV: Heuer Fernandes – Beyer, Letschert, van Drongelen, Leibold – Fein – Hunt, Dudziak – Jatta, Hinterseer, Kittel.