Hamburg/Herzogenaurach. HSV-Sportdirektor spricht vor dem Zweitliga-Neustart über Corona-Tests, Spielertransfers und die Eldorado-Bundesliga.
Beim Mittagessen im Herzogspark schaute Michael Mutzel noch einmal genau hin. „Polle war ganz normal dabei, das scheint nichts Schlimmes zu sein“, sagte der Sportdirektor des HSV anschließend, als er bei einer kurzen Video-Pressekonferenz zum kleinen Trainingsunfall am Vormittag von Torhüter Julian Pollersbeck angesprochen wurde.
Etwas mehr Zeit nahm sich Mutzel für das lange verabredete Abendblatt-Interview. Während des knapp 60-minütigen Telefonats nahm der 40-Jährige sogar seinen Mundschutz ab – ausnahmsweise.
Hamburger Abendblatt: Herr Mutzel, Sie sind derzeit als Sportdirektor als einziger Verantwortlicher im Quarantäne-Trainingslager des HSV in Herzogenaurach dabei, Entschuldigen Sie die direkte Frage gleich zu Beginn, aber: Was machen Sie eigentlich den ganzen Tag?
Michael Mutzel: Ich mache vor allem das, was in den vergangenen Wochen viel zu kurz gekommen ist. Trotz 1,50 Meter Abstand will ich nahe an der Mannschaft und am Trainerteam sein. Mir persönlich ist es sehr wichtig, in dieser anspruchsvollen Situation als Verantwortlicher dabei zu sein. Die Nachmittage gestalte ich ähnlich wie im Büro in Hamburg. Laptop und Handy sind immer griffbereit.
Sie tragen tatsächlich im Hotel Maske?
Natürlich. Einerseits ist das die Vorschrift. Andererseits gewöhnt man sich auch schnell daran. Mein einziges Problem ist nur, dass ich die Maske dann immer abends mit einem Handwaschmittel auswasche, und mittlerweile bekomme ich diesen Seifengeschmack aus der Maske nicht mehr raus (lacht). Aber wir haben ja noch ein paar Reservemasken mit dabei.
Am Ende einer „normalen“ Vorbereitung werden die Verantwortlichen meist nach ihrem Gefühl für die kommende Halbserie und die kommenden sechs Monate gefragt. Wie ist Ihr Gefühl für die kommenden sechs Wochen?
Sehr gut. Die letzten Wochen und Monate waren extrem anspruchsvoll. Dieter Hecking hat mit seinem Trainerteam unsere Mannschaft trotz der erschwerten Bedingungen bestmöglich auf die kommenden Wochen vorbereitet. Trotzdem weiß natürlich niemand, was uns genau am Sonntag erwarten wird. Der Rest der Saison ist zwar eine kleine Wundertüte, aber ich sehe uns gut gerüstet.
Am Mittwoch und Donnerstag beratschlagten die Vertreter der Bundesligaclubs, wie man mit einem Saisonabbruch umgehen würde. Unter den Bundesligaclubs gab es sehr unterschiedliche Meinungen, wie man mit einem Saisonabbruch verfahren sollte. Wie ist Ihre Meinung?
Wir bereiten uns hier vor Ort konzentriert auf das Spiel gegen Greuther Fürth vor. Von diesen Was-wäre-wenn-Szenarien machen wir uns völlig frei. Die DFL hat bislang einen sehr guten Job gemacht, und ich bin mir sicher, dass, sollte der Fall eintreten, eine vernünftige Lösung gefunden wird. Unser Fokus gilt zu 100 Prozent dem Spiel am Sonntag gegen Greuther Fürth.
Bekommt der Herberger-Satz „Das nächste Spiel ist das wichtigste“ angesichts eines drohenden vorzeitigen Abbruchs eine ganz neue Bedeutung?
Absolut. Aber diese Fußballfloskel hat fast immer einen hohen Wahrheitsgehalt. Bei uns kommt ja noch hinzu, dass wir in den ersten zehn Tagen gegen unsere beiden direkten Konkurrenten Bielefeld und Stuttgart spielen. Gut ist: Wir haben alles in den eigenen Händen.
Eine mögliche Fortsetzung der Saison über den 30. Juni hinaus haben Sie nicht in den eigenen Händen. Haben Sie mit den Beratern und Spielern, deren Verträge am 30. Juni auslaufen, bereits Vereinbarungen getroffen, falls im Falle einer Relegation oder einer Verschiebung noch im Juli gespielt werden muss?
Das ist ein Thema, das alle Clubs betrifft. Ich rechne mit einer großen Lösung durch die Verbände.
Ein Beispiel: Adrian Fein gehört ab dem 1. Juli wieder dem FC Bayern. Wenn er im Juli aber mit einer Ausnahmegenehmigung weiter für den HSV spielen darf und sich – was wir natürlich nicht hoffen – eine schwere Verletzung zuzieht, wer kommt dann für den Schaden auf?
Genau dieser Fall muss und wird vorab geregelt werden. Wir haben uns natürlich auch schon mit dem Thema beschäftigt. Aber wie schon gesagt: Am besten gibt es einheitliche Regeln für alle Vereine.
Sie dürften den Markt der ablösefreien Spieler ohnehin genau im Blick haben. Teilen Sie die Meinung, dass in diesem Sommer hauptsächlich ablösefreie Spieler und Leihprofis zum Thema werden können?
Das ist sehr wahrscheinlich, wobei Prognosen für den Markt derzeit extrem schwierig sind. Keiner weiß ja aktuell, wie lange wir zum Beispiel Geisterspiele haben werden. Fallen für alle Clubs die Zuschauereinnahmen über Monate weg, dann wirkt sich das natürlich auf den Transfermarkt aus. Bei uns gibt es ja sogar noch ein paar Fragezeichen mehr: Wir wissen nicht nur nicht, wie es mit Corona weitergeht. Wir wissen auch nicht, in welcher Liga wir hoffentlich ab August spielen werden. Aber es hilft ja nichts, darüber zu lamentieren.
Sie sind dafür bekannt, viele direkte Gespräche zu führen, um einen Spieler, seine Familie und seinen Berater zu überzeugen. Bei Xavier Amaechi beispielsweise waren Sie zigmal in London vor Ort. Hat Corona Ihnen nun Ihre größten Stärken bei der Anwerbung neuer Spieler geraubt?
Es stimmt schon, dass man sich umstellen muss. Aber das müssen alle anderen Menschen ja auch. Und man kann ja auch mal mit einem Spieler, den man gut findet, Corona-bedingt einen Videoanruf machen. Natürlich ergibt es im Moment wenig Sinn, Spieler zu kontaktieren, da es für die kommende Saison noch sehr viele Fragezeichen gibt. Das Gleiche gilt für die Berater. Letztens habe ich einen gesprochen, der sich gefreut hat, dass überhaupt mal wieder jemand anruft. Momentan ist große Verunsicherung auf dem Markt zu spüren.
Allgemein wird erwartet, dass für viele Profis aus dem Ausland die deutschen Bundesligen interessanter geworden sind, weil hier zum einen die Gehälter zuverlässig bezahlt werden, zum anderen die Liga trotz Corona zu Ende gespielt wird und darüber hinaus auch das Gesundheitssystem sehr gut ist. Wird die Bundesliga die neue Eldorado-Liga?
Diese Vorreiterrolle der Bundesliga wird im Ausland natürlich schon sehr genau verfolgt. Und dass man sich in Deutschland auf pünktliche Gehaltszahlungen verlassen kann, war auch schon vor Corona bekannt. Trotzdem glaube ich nicht, dass plötzlich alle Profis aus der Premier League unbedingt in die Bundesliga wechseln wollen. Dafür sind die Gehälter in England viel zu hoch – auch in Coronazeiten.
Neben England haben sich zuletzt auch immer mehr Spieler in Deutschland zu Wort gemeldet, die ihre Corona-Sorgen öffentlich gemacht haben. Gab es beim HSV auch Spieler, die verunsichert waren?
Nein, bislang nicht. Das liegt aber meiner Meinung nach auch daran, dass wir alle Dinge sehr offen und sehr genau mit den Jungs besprochen haben. Als Verein waren wir da wirklich extrem sensibel mit der ganzen Thematik. Noch mehr nach dem Kalou-Video. So ein Video, da lehne ich mich mal aus dem Fenster, kann es bei uns nicht geben. Vor allem auch deswegen, weil das Trainerteam und gerade auch Cheftrainer Dieter Hecking, aber ebenso unser Teamarzt Götz Welsch und unser Teammanager Lennart Coerdt in den letzten Wochen einen Superjob gemacht haben. Die Jungs wurden sehr offen und ausführlich über alles aufgeklärt. Trotzdem kann es natürlich passieren, dass jemand Sorgen hat. Da können wir dann nur das persönliche Gespräch anbieten.
Glauben Sie denn, dass ein Spieler, der Angst hat, in diesem Haifischbecken Profifußball tatsächlich einfach zu Ihnen oder dem Trainer geht und sagt: Ich möchte lieber nicht mit der Gruppe trainieren?
Die Frage ist berechtigt. Im Profifußball tut man sich schwer, Schwächen zuzugeben. Gerade deswegen kann ich nur immer wieder zum Angebot machen, dass wir für alle Sorgen und Ängste sehr offen sind. Trotzdem müsste am Ende des Tages der Spieler durch die offene Tür gehen.
Was würde einem Spieler drohen, wenn er nach weiteren möglichen Coronafällen nicht mehr spielen wollen würde. Würde er dann trotzdem weiter bezahlt werden?
Ganz ehrlich: Diesen theoretischen Fall haben wir noch gar nicht durchgespielt. Sicher ist aber, dass wir sämtliches Verständnis aufbringen würden. Der Spieler könnte sich sicher sein, dass wir eine Regelung finden würden, mit der alle leben können.
Können Sie also auch Kölns Birger Verstraete verstehen, dessen Freundin eine Risikopatientin ist und der sich deswegen natürlich größere Gedanken macht?
Ich kann ihn sehr gut verstehen. Was ich aber nicht verstehen kann, ist die Art und Weise, wie er seine Sorgen zum Ausdruck gebracht hat. Ich glaube nicht, dass er durch seinen öffentlichen Weg Kollegen geholfen hat, die möglicherweise ähnliche Sorgen haben.
Beim HSV wurden ja bislang alle Spieler negativ gemeldet. Genau wie die Spieler wurden auch Sie am Mittwoch zum fünften Mal auf das Coronavirus getestet. Kann man sich an den Abstrich im hinteren Rachenraum gewöhnen?
Natürlich ist das Prozedere nicht angenehm, aber es ist absolut ertragbar. Für mich ist das gar kein Problem.
Haben Sie das Ergebnis schon zurück?
Noch nicht. Bei uns gab es ja bislang auch nur negative Fälle. Deswegen sagte unser Mannschaftsarzt immer am nächsten Tag allen kurz Bescheid. Sollte es doch mal einen positiven Fall geben, müsste natürlich der Spieler entscheiden, ob das auch kommuniziert werden darf.
Sie werden dreimal die Woche getestet, Ihre Frau und Ihre Kinder, die Sie ab Sonntagabend wiedersehen, aber nicht. Ist es da nicht eine Frage der Zeit, ehe es einen zweiten Fall Dresden geben wird?
Das glaube ich nicht. Denn theoretisch könnte ich sogar positiv sein, würde aber trotzdem niemanden anstecken. Wir halten uns wirklich ziemlich penibel an die DFL-Richtlinien. Und die sehen ja vor allem Abstand und Mundschutz vor. Somit müssen auch nicht sämtliche Familienangehörige in eine Zwangsquarantäne.
Sie haben drei Kinder …
… die sich schon sehr darauf freuen, irgendwann wieder in Kita und Schule zu gehen. Auch wenn es nur für ein paar Stunden ist. Ein Hauch von Normalität wird uns allen nach den vergangenen Wochen guttun.
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Wie sind Ihre Qualitäten als Homeschooling-Lehrer?
Ich würde mal sagen befriedigend. Zu mehr reicht es nicht. Einen herausragenden Job hat meine Frau gemacht. Ich habe ehrlich gesagt nur ab und an mal ausgeholfen, wenn ich konnte. Trotzdem muss ich auch gestehen, dass ich nicht alles in der Corona-Zeit schlecht fand. Ich habe auch genossen, dass ich mal für längere Zeit zu Hause war und viel mehr von den Kindern mitbekommen habe. Diese Zeit will ich auf gar keinen Fall missen. Und trotzdem freue ich mich natürlich darauf, dass ab diesem Wochenende der Ball wieder rollt.