Hamburg. HSV startet wieder mit Mannschaftstraining, sucht allerdings noch ein Quarantäne-Hotel. Göttlich fordert Systemwandel.
Angela Merkel hatte sich Zeit gelassen. Erst um 15.41 Uhr, also rund viereinhalb Stunden nach Beginn der Videokonferenz mit den 16 Ministerpräsidenten, nahm die Bundeskanzlerin am Mittwochnachmittag auf dem Podest der Bundespressekonferenz in Berlin Platz. Und nachdem Deutschlands Fußballfans auf die erhoffte Nachricht über den Neustart der Bundesligen nun schon so lange gewartet hatten, ließ die Regierungschefin die ungeduldigen Anhänger dann auch noch weitere neun Minuten warten, ehe sie eher beiläufig erklärte, dass der Profifußball „in der zweiten Maihälfte“ wieder loslegen könnte.
Halleluja. Die Nachricht aus Berlin sorgte in der Zentrale der Deutschen Fußball-Liga (DFL) in Frankfurt genauso für kollektives Aufatmen wie auf den Geschäftsstellen des HSV und des FC St. Pauli in Hamburg. „Wir freuen uns über das positive Signal aus der Politik, dass wir Mitte Mai wieder mit dem Ligabetrieb starten dürfen“, sagte St. Paulis Sportchef Andreas Bornemann.
Zwei Länder gegen DFL-Start am 15. Mai
Die Ministerpräsidenten hatten sich den umstrittenen Neustart des Profifußballs auch wahrlich nicht einfach gemacht, auch wenn Hamburgs Bürgermeister Peter Tschentscher später von „einem einstimmigen Beschluss“ sprach. Bis in den frühen Nachmittag war vor allem darüber gestritten worden, ob man tatsächlich am 15. Mai oder nicht doch besser erst eine Woche später beginnen sollte.
Besonders die Bundesländer Bremen und Rheinland-Pfalz sollen sich gegen einen zu frühen Neustart ausgesprochen haben. Dabei schien der Datumsstreit doch Stunden zuvor längst ausgeräumt, als in der offiziellen Beschlussvorlage des Bundes von einer 14-tägigen Quarantäne die Rede war. Eine Rückkehr in den Spielbetrieb zum 15. Mai wäre somit unmöglich gewesen.
Quarantäne: Welches Hotel wählt der HSV?
Allerdings dauerte es nicht lange, ehe der Passus rechtzeitig vor der Videokonferenz der Minister gestrichen wurde. Am Nachmittag dann die wohlformulierte Entscheidung von der „zweiten Maihälfte“. Mit anderen Worten: Die endgültige Entscheidung über den Start am 15. oder am 22. Mai darf die DFL selbst übernehmen. Und die ließ sich nicht lange bitten.
Das Präsidium des Verbands beschloss schon am Mittwochabend, dass bereits am 15. Mai wieder gespielt werden soll. Darüber könnte es aber noch in der heutigen Videokonferenz aller 36 Proficlubs der Bundesliga und Zweiten Liga zu Diskussionen kommen. Widerstand gegen diesen Termin gibt es aus Bremen und Mainz.
Das große Ganze ist also zwar entschieden. Viele kleine, aber feine Details müssen jedoch nun folgen. Zeitnah folgen. Denn: Sollten die Ligen tatsächlich mit dem 26. Spieltag neustarten, würde der HSV bereits am übernächsten Freitag den Auftakt mit dem am 13. März in letzter Minute abgesagten Auswärtsspiel in Fürth machen.
Das würde allerdings auch bedeuten, dass der HSV spätestens am morgigen Freitag in das obligatorische einwöchige Quarantäne-Trainingslager aufbrechen müsste. In den vergangenen Tagen hatten die HSV-Verantwortlichen bereits bei mehreren Hotels angefragt, darunter auch das Mannschaftshotel Grand Elysée und das Lindner Park-Hotel Hagenbeck. Eine Entscheidung soll heute folgen.
Corona: Motivation wird wichtiger
Schon am gestrigen Mittwoch wurde entschieden, dass sowohl HSV als auch St. Pauli ab sofort in den normalen Trainingsbetrieb zurückkehren dürfen. Um die Hygieneregeln mit dem Kader bestmöglich einzuhalten, ziehen die HSV-Profis tagsüber aus dem Stadion in die Alexander-Otto-Akademie um.
„Die Räumlichkeiten dort eignen sich besser, um Abstands- und Hygieneregeln außerhalb der Trainingseinheiten einzuhalten“, sagt Sportvorstand Jonas Boldt, der die erste Entscheidung am Tag der Entscheidung schon weit vor der Pressekonferenz mit Angela Merkel am Mittwoch getroffen hatte: Football-Coach und Motivationsexperte Patrick Esume wird seine im Februar begonnene Hospitation im Trainerteam der Hamburger fortsetzen.
Der 46-Jährige war auf Boldts Initiative bereits für zwei Tage im Training dabei. Er soll die Trainer und das Team eng begleiten, neue Impulse einbringen. „Der Austausch mit den Trainern und Spielern bei meinem ersten Kurzbesuch hat Appetit auf mehr gemacht“, sagte Esume.
Das Thema Motivation wird bei allen Clubs in den kommenden Woche besonders wichtig werden. Bis auf Mönchengladbach und Köln haben keine Teams bislang Erfahrungen mit Spielen in leeren Stadien gemacht. Für viele Profis dürfte es eine groteske Situation werden, um mögliche Auf-, Abstiege oder Meisterschaften zu kämpfen und diese emotionalen Momente ohne die Reaktionen auf den Rängen zu erleben. Umso mehr wird es darauf ankommen, die Konzentration und die Motivation mit anderen Methoden hochzuhalten.
Geisterspiele ein Vorteil für den HSV?
Beim HSV geht man intern davon aus, dass die Geisterspiele für die Mannschaft im Vergleich zu anderen Vereinen zumindest kein Nachteil wären. Individuell ist der HSV fast allen Teams der Liga überlegen. Bei Heimspielen war am Ende der vergangenen Saison zu spüren, wie der Aufstiegsdruck vor den Fans die Spieler lähmte. Und Auswärtsspiele haben für den HSV ohnehin einen Pokalspielcharakter.
Profitieren könnte der HSV in jedem Fall von seiner Kadergröße. Stand jetzt wären bei der Saisonfortsetzung alle Profis fit – auch die zuletzt verletzten Martin Harnik (Muskelfaserriss) und Ewerton (Innenbandanriss). Mit einer Kadergröße von 28 Spielern gehen die Hamburger in die letzte Saisonphase.
Der FC St. Pauli ließ sogar 30 Fußballer auf Corona testen. Bis auf die leicht angeschlagenen Abwehrspieler Philipp Ziereis und Flügelstürmer Christian Conteh (beide muskuläre Probleme) sowie die längst aussortierten Marc Hornschuh, Ersin Zehir, Jakub Bednarczyk, Yiyoung Park und Florian Carstens sind alle Spieler einsatzbereit. Aus der U 23 trainieren zudem die Talente Christian Viet (Mittelfeld), Marvin Senger (Abwehr), Maximilian Franzke (Mittelfeld) und Mert Kuyucu (Abwehr) mit.
Grundsätzliches von St. Paulis Präsident Oke Göttlich
Ende gut, alles gut? Nicht ganz! Merkels erlösende Nachricht war gerade einmal ein paar Minuten alt, als St. Paulis Präsident Oke Göttlich Grundsätzliches loswerden wollte. „Allen muss klar sein, dass dieser Re-Start auch der unbedingte Anstoß einer Debatte über die Neuausrichtung des systematisch aus dem Ruder gelaufenen Profifußballs sein muss“, sagte Göttlich, der als Mitglied des DFL-Präsidiums heute an der digitalen Vollversammlung teilnehmen wird.
„Spiele ohne Fans bieten in allen Facetten ein gruseliges Bild, was wir alle im puren Marktglauben aus diesem Spiel gemacht haben“, ergänzte Göttlich. Sein Fazit: „Das Verhältnis aus Sport, Kultur und Wirtschaft muss neu justiert werden.“
Verantwortlich hierfür wird vor allem DFL-Chef Christian Seifert sein, der bereits eine „Taskforce Zukunft“ angeregt hatte. In der Gegenwart ist Seifert aber vor allem erleichtert, dass die Politik seine wochenlange Lobbyarbeit honorierte: „Spiele ohne Stadion-Zuschauer sind für niemanden eine ideale Lösung. Es ist in einer für einige Clubs existenzbedrohenden Krise allerdings die einzige Möglichkeit, den Fortbestand der Ligen in ihrer jetzigen Form zu bewahren“, sagte Seifert, der bei der heutigen Videokonferenz auch noch mal die Clubs in die Pflicht nehmen dürfte.
Söder sauer auf Herthas Kalou
Hintergrund ist der Fall Salomon Kalou, dessen Facebook-Video unrühmliche Berühmtheit erlangt hatte und Bayerns Ministerpräsidenten Markus Söder gestern noch einmal auf die Palme brachte: „Es sollten auch Spieler, die sich unvernünftig verhalten, mit Konsequenzen rechnen müssen. Es war von dem einen Spieler von Hertha BSC schon ein schweres Eigentor.“
Ein Eigentor, das Merkel betonen ließ, dass ihre Zustimmung lediglich „unter der Voraussetzung der getesteten und genehmigten Regeln“ gelte. Das Merkel-Motto des Tages darf also von „Wir schaffen das!“ leicht umgeschrieben werden. In: „Ihr schafft das, aber ...“