Hamburg. Fans äußern sich beunruhigt in sozialen Netzwerken. HSV fürchtet die Krise mehr als Corona. Letzter in der “Treter-Tabelle“.
Krise: Das K-Wort hat HSV-Vorstandschef Bernd Hoffmann einen Tag nach dem 0:3 bei Erzgebirge Aue sehr schnell in den Mund genommen. Und es war aus guten Gründen. Zwei "grottenschlechte Spiele" in Folge, wenig spielerische oder kämpferische Ansätze, die Optimismus für die nächsten Partien verbreiten könnten, eine peinliche Hilflosigkeit (Schwalbe und Gelb-Rot für Gideon Jung) und die Statistik. Denn wie schon zuletzt bekommt der HSV im Frühjahr seine Schwächeperiode. In der vergangenen Saison wurde da der Aufstieg verspielt.
Ein Vergleich hat oft die Eigenschaft, dass er hinkt. Aber mit dem aktuellen Coronavirus verhält es sich ähnlich. Es gibt weltweit viele Infizierte, sogar Tote. Aber hierzulande ist es noch nicht so schlimm. Wer sich schützt, kommt gesund durch. Und das Virus schwächt sich möglicherweise ab. Das Gesundheitssystem ist gut vorbereitet. Und doch herrscht eine gewisse Hysterie.
Wie beim HSV, der alles getan hat, um den Aufstieg in die Bundesliga zu schaffen: Wunschtrainer Dieter Hecking geholt, den Sturm aufgerüstet, im Winter mit Joel Pohjanpalo noch einen "Knipser" geholt.
Corona? Nicht beim HSV!
Beim Vormittagstraining des HSV am Dienstag haben die Profis geduldig Autogramme geschrieben und auch die Kinder abgeklatscht, die am Spielfeldrand standen – keine Angst vor dem Coronavirus. Im Mannschaftstrakt stehen an jeder Ecke Spender mit Desinfektionsmitteln, die Spieler sind angehalten, sie regelmäßig zu benutzen. Experten empfehlen, sich nach dem Händeschütteln nicht ins Gesicht zu fassen.
Adrian Fein hat Regensburg im Sinn
„Wir haben noch alles selbst in der Hand und müssen uns als Einheit darauf besinnen, was wir können“, sagte Adrian Fein (20) am Dienstag. Nach den Niederlagen gegen den FC St. Pauli (0:2) und bei Erzgebirge Aue (0:3) hat der HSV als Tabellendritter neun Punkte Rückstand auf Spitzenreiter Arminia Bielefeld. Auf den zweitplatzierten VfB Stuttgart sind es drei Zähler. Der Vorsprung auf den viertplatzierten 1. FC Heidenheim beträgt ebenfalls drei Punkte. Fein sagte im Hinblick auf das Spiel gegen Jahn Regensburg am Sonnabend (13 Uhr): „Wir denken an das nächste Spiel, denken positiv, wollen unbedingt gewinnen.“ Fein trug zuletzt noch eine Spezialmaske nach seiner Jochbein-Verletzung.
DFL ändert Anstoßzeiten
Der HSV muss sich darauf einstellen, in Zukunft weitere geänderte Anstoßzeiten zu haben. Die DFL will im Zuge der Vergabe der TV-Rechte auch die Spieltage reformieren. So dürfte das Topspiel der Zweiten Liga künftig am Sonnabendabend stattfinden. Steigt der HSV (doch noch) in die Bundesliga auf, könnten Partien am Sonntagabend um 19.30 Uhr dazukommen. Für die Heimspiele stimmungsvoll, für Auswärtsspiele nicht so praktisch.
HSV-Fans fürchten das Krisen-Virus
Zuallererst betrifft die Hysterie die HSV-Fans, die sich schon seit Jahren nicht mehr mit dem zufrieden geben, was ihnen die wechselnden Verantwortlichen vordeklinieren. Die halbwegs Besonnenen unter ihnen (die große Mehrheit) äußern sich im Internet mit schlüssigen Argumenten.
Stellvertretend für viele schreibt ein User bei Twitter (Originalton): "Es ist jetzt auf Messers Schneide. Du gehst mit einem Sieg aus 7 Spielen in die Winterpause. Kommst mit 3 Siegen in das neue Jahr. Und verfängst dich wieder in so eine Spirale. Manndeckung und Konterfußball reicht gegen den HSV. Und da ist Hecking durchaus gefordert."
Eine recht treffende Analyse. Sie ist auch nicht vernichtend pessimistisch. Hecking wird von vielen Fans Großes zugetraut. Die Rückendeckung des Vorstandes hat er auch. Ein weiterer Fan schreibt bei Twitter: "Ich hoffe nicht, dass die Stimmung kippt. Ich halte Dieter Hecking immer noch für den besten Trainer für den @HSV . Wer soll denn sonst kommen und es besser machen? Sorry, aber ich denke, er muss definitiv bleiben!"
Der HSV sei mit Jonas Boldt und Dieter Hecking solider geworden, schreibt ein anderer User. Die Fans, so mahnte er, müssten sich ebenfalls ändern und dürften nicht in Panik verfallen.
In dieser Statistik ist der HSV Letzter
Für die Krise gibt es jedoch auch Zahlen, die unleugbar sind: Nach den eben zitierten drei Siegen in 2020 kamen ein Unentschieden und zwei Niederlagen. Ein Trend? Und in der "Treter-Tabelle" ist der HSV Letzter. Das ist die Statistik über die Gelben, Gelb-Roten und Roten Karten der Zweiten Liga. "Nur" 26-mal Gelb, je einmal Gelb-Rot und Rot – der HSV wirkt in 24 Spielen geradezu brav.
Bundesliga-Spitzenreiter Bayern München hat genauso viele Platzverweise wie der HSV, aber 42 Gelbe Karten. Da wird wohl mehr geholzt, wenn's mal nicht läuft. Schüchterne Dortmunder sind übrigens Letzte, nur 20 Gelbe und eine Gelb-Rote Karte bislang. Brave Clubs bleiben in der Zweiten Liga, böse kommen überall hin...
Tim Wiese: Relegation zwischen Werder und dem HSV droht
Das schlimmste Horrorszenario hat der frühere Werder-Torwart, Autoposer-Fan und Hobby-Wrestler Tim Wiese gezeichnet. Der HSV auf Platz drei in Liga zwei und Werder Bremen (derzeit) auf Platz 17 in der Bundesliga – da ist ein Aufeinandertreffen in der Relegation um den Aufstieg oder Verbleib in der Bundesliga im Mai gut möglich. "Das wäre Psycho-Terror für alle. Dann haben wir hier Eskalation", sagte Wiese der "Bild"-Zeitung.
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Krisen-Erinnerungen an Fiete Arp
Und in dieser Situation wird der HSV an sein größtes Talent seit Heung-Min Son erinnert: Fiete Arp. Der damals nicht mal volljährige Abiturient sollte den Abstieg des HSV verhindern helfen. Er hatte in der Junioren-Nationalmannschaft geglänzt und wurde vom DFB als Super-Talent ausgezeichnet. Die Schultern eines jungen blonden Stürmers allein konnten die HSV-Krise nicht meistern. Der Verein stieg ab, Arp bekam die Krise und rettete sich später zum FC Bayern München. Dort verstärkt er die Nachwuchsmannschaft, andere wie Joshua Zirkzee zogen an ihm vorbei.
Jetzt erinnerte der deutsche U19-Nationaltrainer Guido Streichsbier daran. Er hat für einen sensiblen Umgang mit Talent Youssoufa Moukoko von Borussia Dortmund plädiert. „Wir müssen aufpassen, dass es sich bei Youssoufa nicht so entwickelt wie einst bei Fiete Arp. Daher stimmen wir uns auch eng mit dem BVB ab, wir haben generell eine Verantwortung für all unsere Talente“, sagte er der „Bild"-Zeitung. Ironie der Geschichte: Moukoko (15) kam vom FC St. Pauli zum BVB. Er soll jetzt die deutsche U19 beflügeln.