Hamburg. Klischees von rechts und links sind längst überholt. Die HSV-Apostrophierung als “neue Antifa des Fußballs“ geht vielen aber zu weit.
Wer die vielleicht wichtigste HSV-Botschaft dieser Tage lesen will, der muss zum Trainingsplatz 6 am Hellgrundweg gehen. Seit dem 31. Juli hängt dort ein Plakat, auf dem aber nichts über das kommende Derby am Montag beim FC St. Pauli oder über sonst irgendein Spiel steht. Die Botschaft ist relativ simpel: „Love Hamburg, hate Racism!“ Zwölf Jahre ist es bereits her, dass ein Bündnis aktiver HSV-Fans die gleiche Botschaft in großen Lettern im Rahmen einer Choreografie quer über die Nordtribüne verbreitete. Das damalige Heimspiel gegen den VfB Stuttgart endete 1:1 – und so waren die einzigen Sieger die HSV-Anhänger, die sich klar gegen Fremdenhass positionierten.
Auch Simon Philipps war damals im Stadion – und fühlte sich bestätigt. „Beim HSV kann man sich sehr gut gegen rechte Tendenzen stemmen, weil alle dahinterstehen: die Vereinsführung, der Supporters Club, die Fanbetreuung, die meisten Ultras, die aktive Fanszene“, sagt der Kommunikationsberater, der seit 2002 eine Dauerkarte auf der Nordtribüne hat. Und obwohl Philipps erst 30 Jahre alt ist, weiß der Barmbeker natürlich auch, dass das, was heutzutage normal sein sollte, in früheren Jahren ganz und gar nicht normal war beim HSV.
Hitlergruß zur Begrüßung in der Westkurve
In den 80ern und 90ern bestand der dominante Teil der Fanszene aus rechten Hool- und Skinheadgruppen. Ein Hitlergruß zur Begrüßung in der Westkurve war kein Einzelfall, das verstörende „Wir bauen eine U-Bahn von Auschwitz bis St. Pauli“ gehörte zum Standardrepertoire auf dem Weg ins Stadion.
Das alles ist glücklicherweise lange her. „Als HSV haben wir durch unsere Geschichte eine besondere Verantwortung“, sagt Cornelius Göbel. Der leitende Fanbeauftragte sitzt im Café Pauline, nur einen Freistoß vom Millerntor entfernt. „Der HSV hat eine gesellschaftliche Verantwortung, und der will und muss der Club gerecht werden. Als Fußballclub sollte man eine Art Leuchtturm sein, Orientierung geben“, sagt Göbel.
HSV-Szene grundsätzlich unpolitisch
Es sind Sätze, die man eher vom Stadtrivalen gewohnt ist. Doch mit der Frage, ob der HSV das neue St. Pauli wird, kann Göbel trotzdem nicht viel anfangen. „Klare Antwort: Nein“, sagt er. „Grundsätzlich versteht sich die HSV-Szene eher als unpolitische Kurve. Trotzdem ist und bleibt der Fußball natürlich immer auch politisch. Man kann eine gesellschaftliche Haltung ja nicht einfach am Eingangstor abgeben.“
Beim Lokalrivalen ist diese Einstellung Konsens. „Zu Beginn unserer Amtszeit stand der FC St. Pauli nach außen durch Initiativen unserer Fans vielleicht recht gut da, nach innen aber gab es einen großen Nachholbedarf im Bereich des gesellschaftspolitischen Engagements“, gibt Präsident Oke Göttlich zu. „Man wird vielleicht nie bei 100 Prozent liegen können. Aber ich würde sagen, dass wir uns deutlich gesteigert haben.“
"Der Fall Jatta war kein Glücksfall für den HSV"
Überdeutlich gesteigert hat sich auch der HSV in den vergangenen Jahren. Mit der „Paulisierung des HSV“ kann Philipps trotzdem nichts anfangen. „St. Pauli ist mir ehrlicherweise ein wenig egal. Mir ist wichtig, was bei uns im Club passiert“, sagt der HSV-Anhänger, der sich im Netzwerk E seit Jahren für die Erinnerungsarbeit des Nationalsozialismus engagiert. Der Zusammenschluss von HSV-Anhängern, Mitarbeitern, Fanprojekten und dem Supporters Club trifft sich regelmäßig, bringt Projekte gegen Diskriminierung voran, organisiert Workshops und bietet Fahrten zur KZ-Gedenkstätte Neuengamme an.
Dass im Zuge der Diskussionen um Bakery Jatta, dessen Identität medial angezweifelt wurde, die „taz“ den HSV kürzlich aber als „die neue Antifa des Fußballs“ bezeichnete, ging Philipps zu weit. „Den Artikel fand ich kontraproduktiv“, sagt er und erklärt: „Der Fall Jatta war kein Glücksfall für den HSV – und schon gar nicht für den Jungen. Aus meiner Sicht trivialisiert eine solche Aussage auch die Fanarbeit eines Clubs, die sehr langwierig und mühsam ist.“
Fanbeauftragter: HSV-Familie hat Praxistest bestanden
Göbel sieht es ähnlich, will aber gleichzeitig den Umgang mit dem Fall Jatta nicht kleinreden. „Vielleicht kann man sagen, dass die HSV-Familie den Praxistest bestanden hat. Im Fall Jatta haben praktisch alle im Verein ganz automatisch das Richtige gemacht: die Club-Führung, die sportliche Leitung, die Mitspieler – und auch die Fans.“
Jatta selbst dankte auch dem FC St. Pauli für die Unterstützung: „Divided by Colors, united in cause“, schrieb er am Donnerstag bei Instagram. Geteilt durch Farben, vereint in der Sache. Auch deswegen sagt Philipps zum Umgang mit Jatta: „Es hat nachhaltig gezeigt, dass der HSV viel weiter ist, als er das mal vor vielen Jahren war. Es war ein positiver Realtest.“
St. Pauli lobt HSV für Umgang mit Jatta
Das fanden im Übrigen auch St. Paulis Verantwortliche. Der scheidende Geschäftsführer Andreas Rettig bezeichnete im Abendblatt-Gespräch den Umgang des HSV mit Jatta als „Eins plus mit Sternchen“, und auch Göttlich hatte sich frühzeitig positioniert und einen möglichen Protest ausgeschlossen.
Während beim HSV aber weiterhin betont wird, dass man kein politischer Club sein wolle, wehrt man sich beim FC St. Pauli keineswegs dagegen. „Auch unsere Arbeit in der Deutschen Fußball Liga betrachte ich in erster Linie als etwas Sportpolitisches“, sagt Göttlich, der sich erst kürzlich bei den Wahlen für das DFL-Präsidium gegen HSV-Chef Bernd Hoffmann durchgesetzt hatte. „Ich sehe uns da in der Verantwortung, die Entwicklung des deutschen Profifußballs in die aus unserer Sicht richtige Richtung zu lenken.“
Die richtige Richtung also. Zumindest über den Kurs scheint es bei den Rivalen keine zwei Meinungen mehr zu geben. Die Klischees vom rechten Club (HSV) und linken Verein (St. Pauli) scheinen jedenfalls längst überholt. „Der HSV ist auf einem guten Weg“, sagt Philipps. Gesellschaftlich, politisch, historisch. Und vielleicht nicht ganz unwichtig vor dem Stadtderby: auch sportlich.