Hamburg. England soll der neue Kernmarkt für den HSV werden. Mutzel leistete monatelange Überzeugungsarbeit bei Amaechi.
Dieter Hecking kann den Saisonstart mit dem HSV offenbar gar nicht erwarten. Drei Minuten zu früh kam der HSV-Trainer am Freitagmittag zur ersten Spieltagspressekonferenz dieser Saison – und ließ sich vor dem Auftakt am Sonntag gegen Darmstadt (13.30 Uhr) durchaus Zeit für einen kleinen Klönschnack. Der knieverletzte Aaron Hunt könne spielen, frohlockte Hecking, und auch Neuzugang Timo Letschert sei ein Kandidat für den Kader.
Seine erste Elf wolle er zwar nicht verraten, die Besetzung im Tor dagegen schon. Daniel Heuer Fernandes werde gegen seinen Ex-Club im Tor starten, das war keine Überraschung. Eine kleine Überraschung dagegen Heckings Entscheidung für die Nummer zwei: Tom Mickel. „Ferro und Tom haben einen sehr guten Eindruck in der Vorbereitung auf mich gemacht“, lobte Hecking. „Julian Pollersbeck hatte dagegen ein paar Probleme.“
Als fast alle Fragen zu Darmstadt, dem ersten Spiel, der Vorbereitung und zur neuen Saison gestellt und beantwortet waren, wurde Hecking schließlich noch um seine Einschätzung zum mutmaßlich neuesten HSV-Zugang Xavier Amaechi gebeten. Die Nachricht, dass sich Arsenal London und der HSV nach monatelangen Verhandlungen am Donnerstag über einen Transfer des englischen Toptalents geeinigt hatten, hatte bereits am Vorabend die Runde gemacht. Hecking pustete einmal kräftig durch. „Was kann ich dazu sagen?“, fragte der Coach zurück. „Nichts! Der Transfer ist noch nicht durch, glaube ich. Und solange ein Transfer noch nicht durch ist, kann ja noch viel dazwischenkommen.“
Warum Amaechi den HSV der Bundesliga vorzieht
Hecking hatte recht – und unrecht zugleich. Tatsächlich war der Deal mit dem 18 Jahre alten Flügelstürmer formal noch nicht in trockenen Tüchern. Wirklich viel dazwischenkommen sollte allerdings auch nicht. Eigentlich sollte Amaechi bereits am Donnerstagabend nach Hamburg reisen, den Medizincheck machen und einen Vertrag bis 2023 unterzeichnen. Doch die Ferienzeit und ausgebuchte Flieger machen eben auch bei Fußballern keine Ausnahme.
Und trotzdem: Über die grundsätzliche Einigung durfte sich neben Hecking vor allem Sportdirektor Michael Mutzel freuen. Der 39-Jährige stand seit Monaten mit Amaechi und dessen Familie im Kontakt – und flog immer wieder zu Verhandlungen nach London. Und obwohl Arsenal Talente grundsätzlich nur verleiht und ein halbes Dutzend Bundesligaclubs Interesse am U-18-Nationalspieler angemeldet hatten, wurde Mutzels Beharrlichkeit belohnt. Geeinigt wurde sich auf eine Ablöse von 2,5 Millionen Euro.
Bleibt die Frage: Warum entschied sich Amaechi ausgerechnet für den HSV? Die Antwort ist zweigeteilt: Einerseits soll der noch unerfahrene Tempodribbler Sorgen gehabt haben, bei einem Erstligaclub nicht genügend Spielzeit zu bekommen. Andererseits soll Amaechi beeindruckt haben, mit welcher Hartnäckigkeit Mutzel um ihn geworben hatte. Dem früheren Hoffenheimer war der Engländer bereits aufgefallen, als er für seinen Ex-Club 2017 immer wieder Reiss Nelson im Arsenal-Nachwuchs scoutete.
Wieso Mutzel auf England-Talente steht
Amaechi ist zwei Jahre jünger als Nelson, gilt in England aber als eines der größten Talente im 2001er-Jahrgang. Das hat sich sogar bis nach Nigeria herumgesprochen. Weil der im englischen Bath geborene Amaechi nigerianische Wurzeln hat, hatten die Afrikaner versucht, den Youngster von ihrer A-Nationalmannschaft zu überzeugen. Nach einem persönlichen Gespräch mit Englands Nationaltrainer Gareth Southgate entschied sich Amaechi aber vorerst, weiter für die englischen Nachwuchs-Nationalmannschaften zu spielen.
„In England gibt es viele Toptalente, die spannend sind“, sagte Mutzel dem Abendblatt vor Kurzem, als der Transfer Amaechis noch weit weg war. Auf die Frage nach dem Warum hat Mutzel, der hofft, dass der Amaechi-Deal Signalwirkung haben wird, eine klare Antwort: „Im Nachwuchs machen es die Engländer anders und vielleicht sogar besser als wir. Die Nachwuchsteams spielen nicht um Auf- und Abstieg wie bei uns. Es geht weniger um die Ergebnisse als eher um die Ausbildung. Vielleicht sollte man auch in Deutschland mal darüber nachdenken, unser Nachwuchssystem neu zu strukturieren.“
Grundsätzlich habe sich der englische Markt in den vergangenen Jahren mehr und mehr zu einem interessanten Talentepool entwickelt. „In England sind viele Spieler mutiger und frecher als bei uns“, sagt Mutzel. „Es gibt in England mehr Eins-gegen-eins-Spieler. Bei uns haben die Talente mehr Angst.“
Amaechi soll schon in Nürnberg für den HSV wirbeln
Beispiele dieser Talentewanderung von der Insel in Richtung Deutschland gibt es mehr als genug. Rabbi Matondo war Schalke auch ohne Premier-League-Einsatz im vergangenen Sommer neun Millionen Euro wert. U-17-Weltmeister Emile Smith-Rowe wechselte auf Leihbasis vom FC Arsenal zu RB Leipzig – und das hartnäckige Interesse der Bayern an Chelseas Callum Hudson-Odoi ist hinlänglich bekannt. Als Blaupause für all die hoffnungsvollen Talente gilt Dortmunds Jadon Sancho, der seinen Marktwert beim BVB von fünf auf 100 (!) Millionen Euro katapultieren konnte.
Ganz so weit ist es bei Hamburgs Amaechi natürlich noch nicht. Aber der Teenager ist mitnichten als Ergänzungsspieler eingeplant, sondern viel mehr als direkte Konkurrenz auf dem linken Flügel zu Bakery Jatta. Nicht beim Saisonstart gegen Darmstadt, aber sehr wohl schon am zweiten Spieltag in Nürnberg. Vorausgesetzt, dass er bis dahin einen Flug nach Hamburg erwischt.