Kitzbühel. Im Trainingslager von Kitzbühel fahndet Trainer Dieter Hecking neben der besten Taktik auch nach Führungsspielern.
Die berühmte Streif und das Kitzbüheler Horn versteckten sich hinter dicken Regenwolken, als der HSV-Mannschaftsbus am Montagnachmittag gegen 16 Uhr am Stadion des FC Eurotours Kitzbühel vorfuhr. Feinstes Hamburger Schmuddelwetter mitten in den Alpen. „Gerechnet habe ich damit eigentlich nicht“, sagte HSV-Trainer Dieter Hecking, „aber für das Training ist so ein Wetter natürlich viel angenehmer, als wenn es jetzt 30 Grad wären.“ Und als Hamburger, auch als Neu-Hamburger, weiß man: Es gibt kein schlechtes Wetter, nur schlechte Kleidung.
Sieben Tage lang will Hecking bei Wind und Wetter seine Mannschaft im berühmten Bergort in Richtung Aufstieg trimmen. „Ich will sehen, dass die Mannschaft richtig mitzieht“, sagte der Coach, der bereits in der ersten Kitzbühel-Einheit immer wieder lautstark unterbrach. Neben dem taktischen Feinschliff und dem besseren Kennenlernen soll sich in der hübschen Uschi-Glas-Franz-Beckenbauer-Ortschaft aber vor allem eine echte Mannschaftsstruktur herauskristallisieren, die die Verantwortlichen in der vergangenen Saison vermisst haben.
Sowohl Ex-Sportchef Ralf Becker als auch Nachfolger Jonas Boldt waren in der Analyse der vergangenen Spielzeit zum Schluss gekommen, dass dem HSV Führungsspieler gefehlt haben, die beim verpatzten Zweitliga-Gipfelsturm wetterfest ihren Mann gestanden haben.
Der mittlerweile geschasste Sportvorstand Becker reagierte nach dem letzten Spiel gegen Duisburg schnell: Am Tag nach dem Saisonfinale bat der 48-Jährige die vermeintlichen Führungsspieler Gotoku Sakai, Rick van Drongelen, Julian Pollersbeck und Gideon Jung in sein Büro und teilte einem nach dem anderen mit, dass sie sich besser einen neuen Club suchen, weil er für die kommende Spielzeit nicht mit ihnen plane.
Van Drongelen soll den HSV verlassen
Fußball kann brutal sein. Das merkte Becker dann wenige Tage später selbst, als ihm in einem kurzen Gespräch von den Aufsichtsräten Max-Arnold Köttgen und Andreas Peters mitgeteilt wurde, dass er es nun sei, mit dem nicht mehr geplant werde. Nur wenige Stunden später wurde Jonas Boldt als Becker-Nachfolger vorgestellt. Doch wer nun dachte, dass jetzt noch einmal komplett in Sachen Führungsspielern umgedacht werden würde, der irrte. Nur im Fall von Jung vollzogen Boldt und Neu-Trainer Hecking einen Meinungsschwenk. Ex-Kapitän Sakai, Ex-Stammtorhüter Pollersbeck und Ex-Abwehrchef van Drongelen bleiben Verkaufskandidaten.
Damit steht schon einmal fest, wem man die Rolle als Führungsspieler nicht zutraut. Bleibt nur die mindestens genauso wichtige Frage, wem man aus der runderneuerten Mannschaft diese Aufgabe denn überhaupt zutraut. Und wie schwierig die Beantwortung dieser Frage ist, verdeutlicht die bevorstehende Kapitänswahl, die aber erst nach dem Trainingslager durch die Mannschaft organisiert werden soll. „Jetzt ist noch nicht der richtige Zeitpunkt“, sagte Hecking. Als ernsthafte Kandidaten gelten ohnehin nur Noch-Inhaber Aaron Hunt, der durch seine körperlichen Probleme in der vergangenen Saison nur bedingt als Führungspersönlichkeit in der Kabine taugte. Und Ersatztorhüter Tom Mickel.
Ewerton soll neuer Abwehrchef werden
Immerhin: Die erhoffte Achse der Guten scheint in Ansätzen gefunden. Boldt und Hecking sind davon überzeugt, dass der zuletzt angeschlagene Neu-Torhüter Daniel Heuer Fernandes echte Leaderqualitäten hat. In der Innenverteidigung soll der erfahrene Neuzugang Ewerton (30) die Rolle des Abwehrchefs übernehmen. Ein weiterer Innenverteidiger wird allerdings noch gesucht – genauso wie ein potenzieller Mittelfeldchef.
Diese Rolle wird perspektivisch auch Neuzugang David Kinsombi zugetraut, der sich allerdings direkt im zweiten Testspiel einen Muskelfaserriss zugezogen hatte. Hunt bleibt natürlich wichtig – sofern er gesund bleibt. „Aaron ist in den vergangenen Wochen in einer sehr guten Verfassung“, lobte Trainer Hecking. „Er kann und muss die Jungen führen.“ Und ganz vorne soll Kitzbühel-Lokalmatador Lukas Hinterseer die feste Sturmgröße werden, die Pierre-Michel Lasogga in der vergangenen Spielzeit trotz 13 Saisontoren nie war.
HSV-Kader hat zwei Problemfälle
So weit die Theorie. In der Praxis bietet der momentane HSV-Kader durchaus Chancen, mindestens aber genauso große Risiken. So braucht es einer gewachsenen Führungsstruktur in der Mannschaft, um teamintern die „Problemfälle“ Bobby Wood und Kyriakos Papadopoulos aufzufangen. In herausragender Form könnten die beiden Topverdiener echte Verstärkungen bei der bevorstehenden Berg-und-Tal-Fahrt in der Zweiten Liga werden. In schlechter Form hätten die beiden aber genauso das Potenzial, das gesamte Mannschaftsgefüge lawinenartig zu sprengen.
Der HSV bezieht sein Trainingslager in Kitzbühel
Anschauungsunterricht in Sachen Führungskräfte holte sich Hecking bereits in der vergangenen Woche – nicht im Volkspark, sondern am Rothenbaum. „Unsere Lokalmatadoren haben fantastisch gespielt“, lobte der Fußballtrainer die Beachvolleyball-Vizeweltmeister Julius Thole und Clemens Wickler. „Ihre Körpersprache war beeindruckend.“
Ähnliches will Hecking nun gerne auch in den kommenden Tagen von seinen Fußballern sehen – ganz egal, welche Ideen der Wettergott noch so hat.