Hamburg. Drei Gründe für millionenschwere Verpflichtung des Wandervogels. Leibold einer von fünf Kandidaten. Noch ein neuer Verteidiger?
Am Montag ging plötzlich alles ganz schnell: Ankunft in Hamburg, Medizincheck im UKE und letzte Gespräche mit den neuen HSV-Verantwortlichen. Bis zum Abend war inoffiziell ziemlich sicher, was im Laufe des heutigen Tages offiziell als ganz sicher vermeldet werden soll: Ewerton José Almeida Santos, kurz: Ewerton, soll nach wochenlangen Gesprächen als HSV-Neuzugang Nummer acht unterschreiben.
So schnell der Montag dahinging, so langsam ging es in den vergangenen Wochen voran. Der Kauf des Brasilianers, der für festgeschriebene zwei Millionen Euro aus Nürnberg an die Elbe wechseln soll, darf als echter Kaugummitransfer bezeichnet werden. Bereits vor Monaten hatten Ex-Sportvorstand Ralf Becker und Sportdirektor Michael Mutzel von der Vertragsklausel des 30 Jahre alten Innenverteidigers gehört und über Berater Jürgen Bühler Kontakt aufgenommen.
Das HSV-Interesse an dem Abwehrmann erlosch auch nicht, als Becker beurlaubt wurde und durch Neu-Sportvorstand Jonas Boldt ersetzt wurde. Größter Haken nun: Die Schusseligkeit Ewertons. Der Fußballer hing in den vergangenen Tagen mit einem abgelaufenen Pass in der Heimat fest, ehe er doch über Madrid nach Hamburg einreisen konnte.
Will der HSV Konkurrent Nürnberg schwächen?
Bleibt nur die Frage, warum der HSV einen 30 Jahre alten Absteiger verpflichtet, der auch noch zwei Millionen Euro kostet und darüber hinaus bei zehn Clubs in den vergangenen zehn Jahren unter Vertrag stand. Als Antwort gibt es nicht einen, sondern gleich drei Gründe: Zum einen erhoffen sich die HSV-Verantwortlichen von dem spielintelligenten Innenverteidiger eine verbesserte Spieleröffnung als in der vergangenen Saison.
Des Weiteren soll der frühere Sporting-Lissabon-Profi auch für zusätzliche Erfahrung sorgen, die der jüngsten Mannschaft der Geschichte zuletzt abgesprochen wurde. Und last but not least: Dass man durch die Verpflichtung Ewertons nicht nur die eigene Mannschaft stärkt, sondern auch noch den Kader von Aufstiegskonkurrent Nürnberg schwächt, nimmt man gerne in Kauf.
Mittlerweile kann man wohl kaum noch vom Prinzip Zufall, sondern viel eher vom „Prinzip Bayern“ sprechen. Zur Erklärung: Dem Rekordmeister wird seit Jahren nachgesagt, dass der Club ganz gezielt mögliche Konkurrenten und werdende Konkurrenten schwächt. Egal ob früher den Karlsruher SC, irgendwann Werder Bremen, dann Schalke 04 oder zuletzt auch Borussia Dortmund.
Eine Liga tiefer kann man nun ein ähnliches Vorgehen beim HSV beobachten. So haben die Hamburger bislang alle acht Neuzugänge von früheren oder neuen Ligakonkurrenten verpflichtet – und mit Nürnbergs Linksverteidiger Tim Leibold könnte schon bald der nächste hinzukommen.
So berichtete die „Bild“-Zeitung darüber, dass auch der 25 Jahre alte Ex-Kollege von Ewerton für eine festgeschriebene Ablöse (drei Millionen Euro) wechseln kann. Und nach Abendblatt-Informationen ist der bereits vor einem Jahr vom HSV umworbene Leibold tatsächlich ein ernst zu nehmender Ersatzkandidat für den wechselwilligen Douglas Santos – allerdings nur einer von insgesamt fünf möglichen Linksverteidigern. Leibold selbst hatte zuletzt immer wieder sehr deutlich betont, sich trotz des Abstiegs in Nürnberg wohlzufühlen und beim Club bleiben zu wollen.
"Prinzip Bayern" aus der Not heraus
Zukunftsmusik. Im Hier und Jetzt kann man festhalten, dass der HSV neben Bundesligaabsteiger Nürnberg bereits die Zweitliga-Topclubs und direkten Konkurrenten Bochum (Lukas Hinterseer und Jan Gyamerah), Kiel (David Kinsombi) und St. Pauli (Jeremy Dudziak) geschwächt hat. „Wir haben jetzt Spieler verpflichtet, die die Zweite Liga kennen“, sagt Khaled Narey, der in der vergangenen Saison als einziger Zweitliga-Neuzugang nach Hamburg gewechselt war. Sein Fazit: „Das kann sehr wichtig sein. Letztes Jahr war das anders.“
Klar ist allerdings auch: Das „Prinzip Bayern“ ist keinesfalls eine seit Monaten ausgeklügelte Transferstrategie, sondern viel eher notwendiges Mittel zum Zweck. Denn erst nachdem der HSV den erhofften Aufstieg im Saisonendspurt verpasste, zerschlugen sich eine ganze Reihe von vorbereiteten Transfers für den Fall der Bundesligazugehörigkeit. Besonders in England hatte Neu-Sportdirektor Mutzel mehrere Toptalente an der Angel, die große Lust darauf gehabt hätten, beim HSV den nächsten Schritt zu machen – allerdings nur beim Bundesligisten HSV.
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HSV will einen weiteren Innenverteidiger
Der Zweitligist HSV muss nun kleinere Brötchen backen – ist trotz mittlerweile acht Zugängen allerdings noch immer nicht fertig mit seinen Transferaktivitäten. Wie das Abendblatt erfuhr, soll nach Ewerton sogar noch ein zweiter Innenverteidiger, diesmal ein Rechtsfuß, kommen. Hauptgrund hierfür ist, dass man sich genauso wenig auf Kyriakos Papadopoulos’ anfällige Knie wie auf eine notwendige Entwicklung von David Bates verlassen möchte. Rick van Drongelen, dem man Mentalität attestiert, allerdings die fußballerischen Qualitäten abspricht, dürfte bei einem guten Angebot aus der Heimat wechseln – oder soll sich mit Ewerton um die Rolle des linken Innenverteidigers duellieren.
Ewerton hatte eine 45-Millionen-Klausel
Über dessen fußballerische Qualitäten dürften sich Fans aller Voraussicht nach bereits beim ersten Test der Vorbereitung am Mittwochabend (19 Uhr) in Meiendorf ein eigenes Bild machen. Ewerton wird vor allem ein sehr gutes Kopfballspiel nachgesagt. Die Quote gewonnener Kopfballduelle des 1,88 Meter großen Innenverteidigers ist mit 59,1 Prozent deutlich höher als die des drei Zentimeter kleineren van Drongelen (53,9 Prozent).
Dafür ist ausgerechnet das Passspiel des Niederländers, das man intern als zu unsicher einstuft, zumindest statistisch besser als das des Brasilianers: Während 90,3 Prozent aller Van-Drongelen-Pässe in der vergangenen Saison ankamen, schafften es „nur“ 88,1 Prozent aller Ewerton-Pässe zum Mitspieler. Noch gravierender ist der Unterschied bei langen Bällen. Hier gewinnt van Drongelen das Statistikduell gegen seinen neuen Kollegen sogar mit 57,1 Prozent zu 52,8 Prozent.
Nun denn. Fußball ist ja bekanntlich keine Mathematik. Ein weiteres Beispiel gefällig? Auch bei Sporting Lissabon hatte Ewerton einst eine festgeschriebene Ablöse. Die lag aber nicht bei zwei, sondern bei schlanken 45 Millionen Euro.