Der neue Sportdirektor spinnt im Hintergrund bereits die Fäden. Wie der HSV sich sonst für die Zukunft aufstellt – Teil 1 einer Serie.
Im sommerlichen weißen Hemd sitzt Ralf Becker auf seinem Stuhl, holt kurz Luft und sagt dann mit einem listigen Lächeln einen Satz, der ebenso gut das Leben eines jeden HSV-Mitarbeiters beschreiben könnte. „Einfach kann ja jeder.“ Es ist der 28. Mai 2018, der erste Arbeitstag des neuen Sportvorstands der HSV Fußball AG. Ein Tag, der eine bessere Zukunft im Volksparkstadion einleiten sollte.
Zwei Wochen ist es zu diesem Zeitpunkt her, dass der HSV das erste Mal in seiner Geschichte in die Zweite Liga abgestiegen ist. Ein Ereignis als Ende eines mehrjährigen Niedergangs. Und der Moment für den Beginn eines Neuaufbaus. Mit Ralf Becker als Architekt der Mission Wiederaufstieg. „Mich reizt der HSV und mich reizt es, hier gemeinsam mit den Verantwortlichen eine erfolgreiche Zukunft zu gestalten“, sagt Becker an jenem Tag im Mai auf dem Podium des Presseraums.
Becker: "Es ist jetzt die einzige Chance"
Zeitsprung in die Gegenwart. Es ist der 22. Mai 2019, also fast genau ein Jahr danach, als Becker der Verabredung mit dem Abendblatt folgt, um über die Zukunft zu sprechen. Den HSV der Zukunft. Oder auch: die Lehren aus der Vergangenheit. Hinter Becker liegt ein Lehrjahr. Am Montagabend saß der Manager gemeinsam mit seinen Vorstandskollegen Bernd Hoffmann und Frank Wettstein vor dem Aufsichtsrat, um dem Kontrollgremium zu erklären, warum der HSV noch immer ein Zweitligist ist. Warum die Mission Wiederaufstieg scheiterte. Und vor allem: was jetzt passieren muss, damit die Zukunft des HSV auch wirklich eine bessere wird.
Becker holt wieder kurz Luft und sagt dann: „Es ist jetzt die einzige Chance für uns, knallhart zu analysieren und sehr konsequent an einer Kaderstruktur zu arbeiten, die im kommenden Jahr das Ziel erreichen kann.“ Das erneute Ziel hatte sein Chef Hoffmann bereits zwei Tage nach dem verpassten Aufstieg ausgegeben. „Wir werden uns mit der Zweiten Liga nicht anfreunden“, sagte der Vorstandsvorsitzende. Und auch der Sportvorstand folgte dieser Marschroute drei Tage später. „Ich kann mich hier ja nicht hinsetzen und sagen, dass wir Fünfter werden wollen. Das ist in Hamburg nicht zu vermitteln“, so Becker.
Becker nimmt Abstand vom Sparkurs
Wirklich nicht? Kann man den HSV-Fans, die ihre Mannschaft nach einer derart enttäuschenden Saison trotzdem noch mit großem Applaus verabschiedeten, nicht erklären, dass man sich in der Zukunft erst einmal wirtschaftlich konsolidieren und daher nicht direkt wieder große Ziele propagieren möchte? Die Wahrheit ist: Die Verantwortlichen wollen das gar nicht. Weil sie zu der Erkenntnis gelangt sind, dass der Umbruch in diesem Sommer deutlich größer ausfallen muss als noch vor Wochen angenommen.
Eine völlig neue Mannschaft soll zusammengestellt werden, die verlässlich um den Aufstieg mitspielt. Dabei gleichzeitig Transferüberschüsse erzielen? Das dürfte Becker selbst mit Zauberkräften kaum gelingen. Das sieht der 48- Jährige genauso – und nimmt Abstand von einem Sparkurs. „Natürlich diskutieren wir auch über die wirtschaftlichen Möglichkeiten, die es braucht, um unsere Ziele zu erreichen“, sagt Becker. Der erste Konsens der Aufsichtsratssitzung am Montag: Jeder mögliche Euro soll in den neuen Kader investiert werden.
Hinterseer soll zum Nulltarif kommen
Die ersten Bausteine der neuen Mannschaft hatte der Manager noch in Absprache mit dem gerade freigestellten Trainer Hannes Wolf verpflichtet. Jan Gyamerah (23/VfL Bochum) und Jeremy Dudziak (23/FC St. Pauli) kommen ablösefrei, für den ebenfalls 23 Jahre alten David Kinsombi zahlt der HSV drei Millionen Euro an Holstein Kiel. Lukas Hinterseer (28/VfL Bochum) kommt ebenfalls zum Nulltarif. Während Gyamerah und Dudziak als Perspektivspieler eingestuft werden, sollen Mittelfeldmann Kinsombi und Mittelstürmer Hinterseer zwei zentrale Schlüsselspieler der neuen Führungsachse werden.
„Wir brauchen diese starke Führungsachse, neben der sich die jungen Spieler entwickeln können“, sagt Becker und meint damit den Torwart, die Innenverteidigung, den Sechser, Achter, Zehner sowie den Mittelstürmer. „In dieser zentralen Achse brauchen wir Typen auf dem Platz, die Verantwortung übernehmen“, sagt Becker und umschreibt damit das Versäumnis der vergangenen Spielzeit. „Es hat sich in dieser Saison in den schwierigen Momenten herausgestellt, dass diese Struktur bei uns nicht wie erhofft funktioniert hat.“
Unausgewogenes Potpourri an Führungsspielern
Einen der größten Fehler der Vergangenheit wollen die Verantwortlichen in Zukunft nicht wiederholen: Mit einem Kader in die Saison zu gehen, der von verschiedenen Trainern, Sportchefs und Vorstandsvorsitzenden zusammengestellt wurde.
So wie im vergangenen Jahr, als sich die vermeintliche Führungsachse als ein unausgewogenes Potpourri von früheren Verantwortlichen wie Oliver Kreuzer (Pierre-Michel Lasogga), Dietmar Beiersdorfer (Lewis Holtby), Bruno Labbadia (Gotoku Sakai), Peter Knäbel (Aaron Hunt), Markus Gisdol (Kyriakos Papadopoulos) oder Jens Todt (Julian Pollersbeck) zusammensetzte. Ein Fehler, der sich im Volkspark von Saison zu Saison wiederholte. Wird der HSV endlich aus den Fehlern der Vergangenheit lernen?
Woods Rückkehr soll verhindert werden
Zurück in die Gegenwart. In dieser steht nun beim HSV nicht nur jeder Stein im Verein auf dem Prüfstand, sondern auch jeder Spieler. Nach Lasogga, Holtby, Fiete Arp, Orel Mangala, Heechan Hwang und Léo Lacroix werden den Club noch weitere Spieler verlassen, die gültige Verträge haben und möglicherweise gar nicht mit einem Wechsel planen. Und dazu zählt nicht nur der zuletzt nach Hannover verliehene Bobby Wood, dessen Rückkehr in die Kabine die Verantwortlichen unbedingt verhindern wollen.
Beckers Plan: „Wir brauchen eine andere Struktur in der Mannschaft. Es geht im Kader um Qualität, Struktur und Mentalität. Dazu müssen wir auch den richtigen Trainer finden.“ Dieter Hecking, André Breitenreiter und Markus Anfang gelten als aussichtsreiche Kandidaten.
Eintracht Frankfurt als Vorbild für den HSV?
Doch reicht es, allein den Kader zu verändern und einen neuen Trainer zu verpflichten? Oder braucht der Krisenpatient HSV eine gänzliche Gesundung von innen heraus? Als Vorbild dient den Hamburgern in dieser Hinsicht ein anderer Traditionsclub, der es nach Jahren des Stillstands geschafft hat, eine ganz neue Identität zu erzeugen: Eintracht Frankfurt. Der Pokalsieger des Vorjahres ist die Mannschaft der Saison, begeisterte im Europapokal und qualifizierte sich trotz der Doppelbelastung erneut für den internationalen Wettbewerb.
Dem Macher des Aufschwungs, Sportvorstand Fredi Bobic, sagen Kenner der Eintracht nach, er habe den Verein vor drei Jahren nach dem Abgang des langjährigen Clubchefs Heribert Bruchhagen einmal auf links gedreht. Mit voller Überzeugung und Konsequenz habe er jeden Bereich im Sport umstrukturiert oder neu besetzt. Bobic stellte neue Analysten ein, tauschte Physios aus, installierte einen neuen Teammanager, einen neuen Nachwuchschef, mischte sich in die Jugendarbeit ein, trennte sich von Trainerikonen im Nachwuchs. Das gefiel nicht jedem. Vor allem aber verpflichtete Bobic mit Ben Manga einen neuen Chefscout, der eigentlich schon beim HSV zugesagt hatte. Manga, Bobic und Sportdirektor Bruno Hübner landeten auf dem Transfermarkt einen Volltreffer nach dem anderen.
Mutzel sucht in Frankreich und England
In einer ähnlichen Konstellation hat sich nun auch der HSV aufgestellt. Sportvorstand Becker holte sich mit Michael Mutzel einen Sportdirektor dazu, der seit acht Wochen bereits hinter den Kulissen an weiteren Transfers arbeitet. Vor allem die Zweiten Ligen in Frankreich und England gelten für die Hamburger als potenzielle Märkte für Neuverpflichtungen. Mutzel, der von 1899 Hoffenheim kam, gilt in diesen Ländern als gut vernetzt. Einen jungen Spieler aus England soll der 39-Jährige für den HSV schon im Auge haben.
Klar ist zudem, dass Chefscout Johannes Spors in Hamburg bleibt. Im März lagen dem 36-Jährigen, der das Scouting vor einem Jahr ganz neu strukturierte, Anfragen anderer Clubs vor. Doch Spors hat sich für den HSV entschieden. Auch er hat aufgrund seiner Zeit bei RB Leipzig gute Kontakte in die internationalen Märkte, vor allem nach Frankreich.
Die medizinische Abteilung wird hinterfragt
Mit den wirtschaftlichen Möglichkeiten der Leipziger können die Hamburger allerdings schon lange nicht mehr mithalten. Trotzdem gilt RB im sportlichen Bereich als Vorbild für den HSV. Clubchef Hoffmann sprach zuletzt von einem Systemversagen im Sport und nannte Leipzig als Vorzeigemodell, wenn es um Entscheidungsprozesse, Entwicklungen, Strukturen und Innovation geht. Jeden Stein wollen die Verantwortlichen im Sport nun auch beim HSV umdrehen. Ein neuer Teammanager könnte kommen, ebenso ein Mentaltrainer. Die medizinische Abteilung wird hinterfragt. Über externe Berater wird nachgedacht.
Und auch im Nachwuchsleistungszentrum, das nach den Abgängen der Verantwortlichen Bernhard Peters und Dieter Gudel von Sportchef Becker vernachlässigt wurde, gibt es Veränderungen. Noch am Dienstagabend vermeldete der HSV, dass Hannes Drews die U 21 übernimmt. Der 37-Jährige trainierte zuletzt Erzgebirge Aue und löst den bisherigen Coach des Regionalligateams, Steffen Weiss, ab. Becker kennt Drews noch von Holstein Kiel, wo dieser bis 2017 die U 19 betreute.
Becker will Konstanz im Nachwuchsbereich
Die Trainer der U 19 und U 17, Daniel Petrowsky und Pit Reimers, werden auf ihren Positionen bleiben. Becker will auf diesen Posten eine Konstanz schaffen, weil er die Schwächen im deutschen Nachwuchsfußball auch darin begründet sieht, dass gute Jugendtrainer zu schnell in die Profiteams drängen. „Dass wir in Deutschland teilweise Probleme im Nachwuchs haben, liegt auch daran, dass gute Nachwuchstrainer manchmal die individuelle Ausbildung und Entwicklung vielleicht vernachlässigen und eher auf Ergebnisse trainieren, um sich für höhere Aufgaben zu empfehlen“, sagt Becker.
„Im Vergleich sind wir international in den wichtigen Jahrgängen teilweise etwas abgehängt worden. Wichtig ist es, dass wir Trainer im Nachwuchs haben, die sich in ihren Jahrgängen wohlfühlen und nicht gleich danach streben, den nächsten Schritt zu gehen.“ Den eingeschlagenen Weg mit jungen Spielern will Becker bei den Profis trotz des verfehlten Ziels fortsetzen. Auch wenn die Neuzugänge künftig vermehrt von extern dazustoßen. „Insgesamt geht die Entwicklung im deutschen Fußball in die Richtung, dass weniger Talente aus dem eigenen Nachwuchs den Sprung schaffen, sondern mehr Spieler aus dem Ausland kommen.“
Ruf nach "Leidenschaft und Mentalität"
Der Sportvorstand muss weiter zum nächsten von mehreren Terminen, in denen es um die sportliche Zukunft des Clubs geht. Becker beendet das Gespräch aber nicht, ohne seine Vision für die Zukunft des HSV zu beschreiben. Und holt dafür noch einmal tief Luft. „Wir brauchen eine Mannschaft, die geprägt ist von Persönlichkeiten, die Leidenschaft und Mentalität mitbringen, um die Herausforderungen der nächsten Jahre anzugehen“, sagt Becker und fährt fort: „Gepaart mit jungen und eigenen Spielern, die sich in dieser Mischung entwickeln können – und wir uns durch die sportliche Entwicklung der Spieler und damit des Teams sowie durch Transfererlöse Stück für Stück in eine andere Situation bringen. Das ist für mich der HSV der Zukunft.“
Dieser Weg wird kein leichter sein, sang einst Xavier Naidoo. Aber einfach, würde Becker entgegnen, kann ja jeder.
Lesen Sie ab Donnerstag (23. Mai) im zweiten Teil alles über den finanziellen Weg der HSV-Zukunft.