Rotenburg/Wümme. Der HSV kann noch direkt aufsteigen, sich für die Relegation qualifizieren oder komplett scheitern. Ein Überblick mit den Folgen.
Es war auf die Minute fünf vor zwölf, als beim HSV am Freitagmittag noch einmal die Köpfe zusammengesteckt wurden. Während die Profis auf dem Rasen das Training mit ein paar Schüssen auf (und vor allem über) das Tor austrudeln ließen, ging HSV-Trainer Hannes Wolf, die Hände in den Hüften, auf Clubchef Bernd Hoffmann, die Arme verschränkt, und Sportchef Ralf Becker, die Hände in den Hosentaschen, zu.
Das Vorstandsduo hatte die Abschlusseinheit des Kurztrainingslagers in Rotenburg an der Wümme von der Tribüne aus verfolgt. Einen Tag vor dem so wichtigen Heimspiel gegen den FC Ingolstadt (13 Uhr/Sky und im Liveticker bei abendblatt.de) galt es noch einmal, sämtliche Kräfte zu bündeln. Denn auch im übertragenen Sinne ist es beim HSV drei Spiele vor dem Saisonende längst fünf vor zwölf.
Nach sechs Partien in Folge ohne Sieg war der HSV am vergangenen Sonntag erstmals in Wolfs Amtszeit auf Rang vier abgerutscht. Das Saisonziel (direkter Aufstieg) ist aus eigener Kraft nicht mehr zu erreichen – und selbst das Minimalziel (Relegationsplatz drei) scheint gefährdet, immerhin verlor Konkurrent SC Paderborn, noch Tabellenzweiter, am Freitagabend bei Arminia Bielefeld 0:2.
HSV-Kapitän Hunt fällt erneut aus
Längst hat Wolf aber die Parole ausgegeben, die man als Trainer in so einer Situation ausgibt: „Wir haben nur noch Endspiele“, hatte der Coach gesagt. „Lange waren wir die Gejagten. Jetzt müssen wir jagen, und dementsprechend müssen wir auch auftreten.“ Nun denn, 48 Minuten dauerte das Abschlusstraining am Freitag, ehe die Mannschaft das Jagen einstellte, kurz noch einmal in den Wachtelhof zurückkehrte und anschließend mit einer guten und einer schlechten Nachricht ins Teamhotel Elysée nach Hamburg reiste.
Die schlechte: Aaron Hunt hat den Kampf gegen den eigenen Körper ein weiteres Mal verloren. Der 32 Jahre alte Kapitän hat Rücken, fällt gegen Ingolstadt aus. Die gute Nachricht: Orel Mangala, dem seit Tagen eine Fußprellung zu schaffen macht, will auf die Zähne beißen. Der Einsatz des Belgiers entscheidet sich erst am Spieltag, aber beim HSV ist man zuversichtlich.
Was den Ausgang der Saison angeht, lautet die Prognose dagegen: nicht so zuversichtlich. Dabei ist noch alles drin. Oder auch nichts. Oder sogar: irgendetwas dazwischen. Tatsächlich könnte der HSV durch drei Siege gegen Ingolstadt, in Paderborn und gegen Duisburg bei einem gleichzeitigen Ausrutscher von Union Berlin theoretisch noch Zweiter werden und direkt aufsteigen. Wirklich wahrscheinlich ist das nach dem Negativlauf der vergangenen Wochen aber nicht. Die Hamburger könnten auch in der Relegation enden oder den lange sicher geglaubten Aufstieg verpassen.
HSV fahndet in Frankreich und England nach Neuzugängen
„Ich glaube noch an den Aufstieg“, hatte HSV-Präsident Marcell Jansen nur einen Tag nach dem bitteren 0:2 bei Union Berlin gesagt. Und sollte Jansen recht behalten, könnte Sportchef Becker in gerade einmal zwei Wochen das Projekt Bundesligaklassenerhalt direkt beginnen. Der Gehaltsetat würde zwischen 40 und 50 Millionen Euro liegen, der HSV dürfte mit rund 35 statt 21,449 Millionen Euro TV-Einnahmen kalkulieren, und auch eine Verlängerung mit Hauptsponsor Emirates wäre vorstellbar.
Trotzdem ist man sich intern einig, dass man das Gesicht der Mannschaft stark verändern müsste. Aber: Becker hätte die Mittel, einen Großteil einer Douglas-Santos-Millionenablöse zu reinvestieren. Seit Wochen ist Neu-Sportdirektor Michael Mutzel in Europa unterwegs, sondiert auch die Zweiten Ligen von Frankreich und England. Der zuletzt stark kritisierte Trainer würde definitiv im Amt bleiben.
Mit Ausnahme des 1. FC Nürnberg (drei Relegationen) hat sich kein Club seit Wiedereinführung der Entscheidungsspiele im Jahre 2009 öfter als der HSV dieser Nervenschlacht ausgesetzt. Trotzdem ist die Vorfreude auf die mögliche dritte Relegation nach den Zitterpartien gegen Fürth (2014/0:0 und 1:1) und Karlsruhe (2015/1:1 und 2:1 nach Verlängerung) in Hamburg sehr begrenzt. Das erste Spiel würde am Donnerstag (23. Mai) auswärts stattfinden, das Entscheidungsspiel am Montag danach (27. Mai) im Volkspark. Der wahrscheinliche Gegner: der VfB Stuttgart.
Und diese Konstellation hätte es aus mehreren Gründen in sich. Grund Nummer eins: Hobbyjäger Wolf hatte vor dem HSV den VfB trainiert, war dort im Januar 2018 entlassen worden. Grund Nummer zwei: Mit Orel Mangala setzt der HSV ausgerechnet auf einen Mittelfeldchef, der vom VfB ausgeliehen ist und definitiv nach Saisonende zurückgehen muss. Wie schwer sich der Belgier in einem möglichen Relegationsduell tun würde, kann man sich ausrechnen. Und Grund Nummer drei: Auch Berkay Özcan ist lediglich vom VfB zum HSV verliehen, allerdings mit einer verpflichtenden Kaufoption. Steigt der HSV auf, müssten die Hamburger drei Millionen Euro zahlen. Bleiben die Hamburger in der Zweiten Liga, würde sich die Ablöse auf 1,5 Millionen Euro halbieren.
Massiver Stellenabbau bei verpasstem Aufstieg
Sollte der HSV tatsächlich den Aufstieg verpassen, droht dem Club ein radikaler Sparkurs und möglicherweise auch ein massiver Stellenabbau auf der Geschäftsstelle. Auch der Job von Trainer Wolf stände auf dem Prüfstand. Eine Insolvenz, vor der vor ein paar Monaten noch viele gewarnt hatten, ist dagegen kein Thema. „Ein möglicher Nichtaufstieg wäre keine Katastrophe, aber schwer zu verstehen“, sagt Präsident und Aufsichtsrat Jansen. „Die Welt geht nicht unter, ob der HSV in der Zweiten oder in der Ersten Bundesliga spielt. Theoretisch könnte der HSV auch noch ein oder zwei Jahre Zweite Liga spielen, ohne dass uns der ganze Laden um die Ohren fliegt.“
Sportlich und finanziell müsste der HSV dennoch kleinere Brötchen backen. Neben den bereits verpflichteten Zweitligaverstärkungen David Kinsombi (Kiel), Jan Gyamerah (Bochum) und Jeremy Dudziak (St. Pauli) dürfte im Nicht-Aufstiegsfall auch noch Bochums Stürmer Lukas Hinterseer sowie der eine oder andere Zweitligaprofi kommen. Im Gespräch war zuletzt unter anderen der Duisburger Cauly Oliveira Souza (23). Darüber hinaus dürfte ein weiterhin möglicher Anteilsverkauf, der von einem Großteil der Mitglieder strikt abgelehnt wird, wieder zum Thema werden.
Die beste Nachricht zum Schluss: Die Lage ist ernst, aber nicht hoffnungslos. Es mag beim HSV fünf vor zwölf sein, aber Anpfiff gegen Ingolstadt ist und bleibt um 13 Uhr.