Hamburg. Der HSV will als einer der ersten Clubs auf die Ultras zugehen und nach einer gemeinsamen Lösung suchen. Die Polizei zeigt sich offen.
Nichts deutete am Montagabend auf ein Spektakel im Volksparkstadion hin. Die Stadionuhr auf der Anzeigentafel tickte wie immer: 4:57 Minuten, 4:58, 4:59. Als aber exakt die ersten fünf Spielminuten in der Partie zwischen dem HSV und Dynamo Dresden absolviert waren, gab es im Gästeblock kein Halten mehr. Innerhalb von wenigen Sekunden zündeten die berüchtigten Dynamo-Ultras ein ganzes Arsenal von roten Fackeln, die in kürzester Zeit einen Großteil der Südtribüne in ein regelrechtes Feuermeer verwandelten. Es war definitiv die größte Pyroaktion im Volkspark seit Jahren – möglicherweise sogar in der HSV-Geschichte. Es war spektakulär, überwältigend, bemerkenswert und verstörend, angsteinflößend und brandgefährlich im wahren Sinne des Wortes zugleich.
Ähnlich fielen auch die Reaktionen in den Tagen danach aus. Das Abendblatt twitterte eine fünf Sekunden lange Sequenz der Pyro-Show – und erhielt so viele und so unterschiedliche Reaktionen wie nie zuvor. „Sieht hammergeil aus“, „Super schön!“ oder „Tolle Aktion und vorbildlich durchgeführt“ schrieben die einen. Die anderen: „Lebenslanges, weltweites Stadionverbot für solche Idioten“, „saugefährlich“ oder „die gehören alle rausgeschmissen“.
Fanbetreuer rennt beim HSV offene Türen ein
Cornelius Göbel sitzt einige Tage vor den Dresdner Pyroexzessen im Stadionrestaurant „Die Raute“ und hat durch die Glasscheibe besten Blick auf die Südtribüne. Seit Anfang des Jahres ist der studierte Sozialpädagoge leitender Fanbeauftragter beim HSV. So seine offizielle Berufsbezeichnung. Inoffiziell könnte man auch sagen: Der 35 Jahre alte Fanbetreuer ist Hamburgs Pyro-Beauftragter.
„Ich und wir beim HSV sind der Meinung, dass wir uns dem Thema Pyro anders annähern müssen als bislang“, sagt Göbel, der überraschenderweise mit seinem Vorstoß offene Türen in den Vorstandsbüros beim HSV einrennt. „Klar ist, dass wir einen anderen Umgang mit der Thematik brauchen als bisher“, pflichtet Clubchef Bernd Hoffmann bei. „Die einfache Sanktionierung von Pyro-Vergehen hat bislang zu keinem besseren Umgang mit der Thematik geführt – ganz im Gegenteil.“
HSV musste schon 100.000 Euro zahlen
Tatsächlich musste der HSV in der vergangenen Saison mehr als 200.000 Euro Strafgelder an den DFB für Pyro-Vergehen überweisen – in dieser Spielzeit sind es bereits jetzt schon wieder rund 100.000 Euro. „Bislang ist das Ritual immer das gleiche: Ultras zündeln, der DFB sanktioniert, die Clubs zahlen die Strafe – und dann geht das Ganze von vorne los“, sagt Göbel, der seit 2014 in der Fanbetreuung des HSV arbeitet. „Bei diesem Prozedere gibt es keinerlei Anzeichen für einen Lerneffekt. Einen Dialog gibt es nicht – und er wird vom DFB bislang auch nicht gesucht.“
Doch was nicht ist, kann ja noch werden. Um das unkontrollierte Abbrennen von Pyro wie am Montagabend zu verhindern, wollen die HSV-Verantwortlichen nun ergebnisoffen über das kontrollierte Abbrennen nachdenken. „Wir wollen mit allen Parteien einen neuen Dialog zum Thema Pyrotechnik suchen“, sagt HSV-Chef Hoffmann, der gemeinsam mit Göbel bereits erste Gesprächsrunden absolviert hat. Im Dezember gab es einen ersten runden Pyro-Tisch, Mitte Januar einen zweiten. Neben Hoffmann und Göbel waren noch die Vorstände Ralf Becker und Frank Wettstein dabei, genauso wie Stadionchef Kurt Krägel und je zwei Vertreter der Ultra-Gruppierungen Castaways und Poptown. Letztere hat sich allerdings vor Kurzem aufgelöst.
HSV legt ablehnende Pyro-Haltung ab
Das wichtigste Ergebnis der Gespräche: Die HSV-Verantwortlichen haben ihre ablehnende Haltung der vergangenen Jahre geändert und erkennen nun an, dass ein Großteil der Fans Pyrotechnik gegenüber offen ist. „Wenn man bedenkt, dass es Pyro seit 20 oder sogar 30 Jahren regelmäßig in deutschen Stadien gibt, dann muss man eingestehen, dass Pyro mittlerweile ein Teil deutscher Fankultur ist. Das kann man gut oder schlecht finden, aber es ist nun mal so“, sagt Göbel, der Unterstützung von Hoffmann bekommt: „Wenn man sich eingesteht, dass Pyro ein Teil der Fankultur ist, und das haben wir, dann muss man zumindest über alternative Lösungen ernsthaft nachdenken. Selbstverständlich gemeinsam mit allen Beteiligten wie der aktiven Fanszene, aber auch der Feuerwehr, der Polizei, der Stadt und dem Verband. Aus unserer Sicht ist diese Diskussion überfällig.“
Doch kann man allen Ernstes über das öffentliche Abbrennen von Fackeln, die bis zu 2000 Grad heiß werden können, diskutieren? Die eindeutige Antwort: jein. „Klar ist natürlich, dass die Sicherheit im Stadion oberste Priorität hat“, bekräftigt Hoffmann, dessen Worte auch sehr genau von der Polizei Hamburg vernommen wurden. „Der Sicherheitsaspekt und der Schutz der Zuschauer steht an erster Stelle“, sagt Polizeisprecher Timo Zill, der sich einen vom HSV initiierten Dialog aber nicht verschließen will: „Die Polizei Hamburg ist grundsätzlich offen für Gespräche und alternative Konzepte zum Umgang mit Pyrotechnik.“
Theaterrauch oder kalte Pyro als Lösung?
Und genau diese alternativen Konzepte sollen jetzt gesucht und gefunden werden. „Die zentrale Frage ist: Welche Möglichkeiten gibt es, diesen Teil der Fankultur legal in die Stadien zu bekommen, ohne dass jemand zu Schaden kommt oder kommen könnte?“, fragt Göbel, der schon eine mögliche Antwort parat hat: „Man kann zum Beispiel über Theaterrauch oder kalte Pyro nachdenken, wobei man bedenken muss, dass auch kalte Pyro nicht ungefährlich ist.“
Diese „kalte Pyro“, die auch noch Temperaturen bis zu 230 Grad entwickeln kann, wird derzeit in Skandinavien getestet. Statt brennenden Magnesiums kommt hier niedrig dosierte Nitrozellulose zum Einsatz. Durch Metallsalze lassen sich Farbeffekte erzielen. „Wir müssen die Fanszenen dazu bekommen, dass, wenn sie schon Pyro einsetzen, dann kalte Pyro verwenden“, sagt Göbel, der sich zeitnah vor Ort in Kopenhagen ein Bild von dieser „kalten Pyro“ machen möchte. „2000 und 230 Grad sind ein Unterschied.“
Innensenator Grote zu "Abstiegs"-Pyro (2018):
St. Paulis Rettig von Alternative begeistert
Nicht nur beim HSV ist man auf die „kalte Pyro“ gestoßen. Im Herbst haben sich ein Vertreter der Deutschen Fußball Liga (DFL), Fanbeauftragte von Bremen, Schalke und Mainz, sowie ein Mitarbeiter vom Fanladen des FC St. Pauli die Entwicklung der Alternativ-Pyro im schwedischen Stockholm präsentieren lassen. St. Paulis Geschäftsführer Andreas Rettig („Wir müssen zu verlässlichen Absprachen kommen, wie wir es hinbekommen, um unkontrolliertes Abbrennen zu verhindern. Beispielsweise, indem wir gesonderte Bereiche ausweisen oder es mit kalten Pyros versuchen“) war begeistert. Werders Verantwortliche versuchten sich sogar an einer Umsetzung, scheiterten mit ihren Vorschlägen aber an der Bremer Innenbehörde. Noch weniger gesprächsbereit gab sich zuletzt der hessische Innenminister Peter Beuth (CDU), der das Zünden von Bengalos und anderer Pyrotechnik in Stadien künftig sogar mit Haftstrafen ahnden will.
„Da fällt mir dann nicht mehr viel ein, das steht doch überhaupt nicht im Verhältnis“, kontert Cornelius Göbel. „Wir reden hier über eine jugendliche Subkultur. Und wenn man bei Problemen immer gleich mit der Keule kommt, dann löst man keine Probleme, sondern verschärft sie.“
Ob statt der Keule der Dialog zum Ziel fühlen wird, kann aber natürlich auch Göbel nicht versprechen. „Am Ende kann auch rauskommen, dass es keinen durchführbaren Weg gibt.“ Es wäre das Fazit: Viel Rauch um nichts. „Das kann passieren – und auch das müsste man akzeptieren. Aber natürlich müssen wir probieren, den Dialog zu forcieren.“ In diesem Sinne also: Feuer frei.