Sandhausen. Im ersten Auswärtsspiel in der Zweiten Liga muss der HSV am kleinsten Profiligastandort in Sandhausen antreten. Ein Ortstermin.
Am größten Ereignis der kommenden Wochen in Sandhausen kommt niemand vorbei. Wer über die Leimbach fährt und den Ortseingang an der Hauptstraße passiert, der kann das grün-weiß-schwarze Schild gar nicht verpassen: Hingewiesen wird auf das Hopfenfest Hopfe Zopfe am 1. und 2. September auf dem Festplatz. Die Gemeinde Sandhausen und der MGV Germania 1869 haben eingeladen.
Auch der SV Sandhausen von 1916 hat eingeladen. Nicht zum Wein-, sondern zum Fußballfest. Hinweisschilder sind zwar nirgends zu finden. Aber los geht es ja auch schon an diesem Sonntag, 13.30 Uhr. Zweitligaheimauftakt. Und als Gast kommt kein Geringerer als der große HSV. Dorfclub meets Dino.
„Hier dreht sich die Fußballwelt ein wenig langsamer als anderswo“, sagt Thomas Wesch. Der 58 Jahre alte Elektromonteur sitzt im Vita Mia an der Hauptstraße und hat sich eine Pizza Speciale bestellt. Wesch wohnt im 19 Kilometer entfernten Schönau – und ist dort der Vorsitzende des traditionsreichen HSV-Fanclubs „Die Odenwälder“ mit 35 Mitgliedern.
Kinder tragen Namen vergangener HSV-Größen
„Schuld hat der Uwe Seeler“, sagt Wesch. Der Uwe hatte es seinem Vater angetan, und der hatte seine HSV-Begeisterung weitervererbt. „Mein Sohn Kevin ist natürlich auch HSV-Fan.“ Kevin, benannt nach Kevin Keegan. „Im Fanclub haben wir auch einen David, einen Mark und noch einen Uwe“, sagt Wesch nicht ohne Stolz, und erklärt: „Wegen David Jarolim, Mark McGhee und eben Uwe Seeler.“
In der kurpfälzischen Provinz ist der HSV eben noch immer eine große Nummer. „Die meisten sind hier Anhänger von 1899 Hoffenheim. Aber wir halten dagegen“, sagt Wesch, der selbstverständlich am Sonntag im Stadion live dabei sein wird.
Wobei, so selbstverständlich ist das gar nicht. Das BWT-Stadion am Hardtwald ist natürlich ausverkauft. Und besonders schnell waren die 3400 Gästekarten vergeben. Insgesamt passen gerade einmal 15.414 Zuschauer ins Stadion hinein – also mehr oder weniger die ganze Gemeinde. Sandhausen hat lediglich 14.935 Einwohner, kein Standort im deutschen Profifußball ist kleiner. Es gibt eine Hauptstraße mit drei Klamottenläden, einem Thai-Imbiss mit Biergarten, die Bäckerei Siegel und je zwei Banken und zwei Eiscafés. Der Fashion Point wirbt mit dem Schild „Italy-Mode – alles zum halben Preis“, gegenüber hat „Andrea’s Wollboutique“ geöffnet. Der frühere St.-Pauli-Trainer Holger Stanislawski hat mal vor Jahren gesagt: „Wer in Sandhausen spielt, der weiß endgültig, dass er in der Zweiten Liga angekommen ist.“
"Willkommen beim Dorfclub"
Stanislawski arbeitet heute in einem Supermarkt in Winterhude. Sein Trainerkollege Kenan Kocak sitzt dagegen im VIP-Raum des BWT-Stadions und versucht zu erklären, was den HSV am Sonntag in der Kurpfalz erwarten wird. „Willkommen beim Dorfclub“, sagt der gebürtige Türke, der in Mannheim aufgewachsen ist. 24 Kilometer nordwestlich von Sandhausen.
„Für Sandhausen ist es ein historischer Tag, dass der Dino zum Dorfclub kommt“, sagt Kenan, der sich auch nicht durch das Krisengerede beim HSV nach dem 0:3 in Kiel beeinflussen lassen will. „Jeder versucht dem HSV zu erklären, wie die Zweite Liga funktioniert. Das hat dieser große Club gar nicht nötig“, sagt der Coach und nimmt einen Schluck Wasser. „Ich kenne Trainer Christian Titz sehr gut und weiß, dass er gleich mehrere Pläne im Repertoire hat. Wir sind beide Mannheimer.“
Titz hat vor mehr als 30 Jahren sogar mal ein Jahr in der U15 von Sandhausen gespielt. Viel mehr Gemeinsamkeiten als die Trainer aus Mannheim und einen Geldgeber (hier Präsident Jürgen Machmeier, dort HSV-Investor Klaus-Michael Kühne) haben Sandhausen und der HSV allerdings nicht. „Unterschiedlicher könnte die Konstellation am Wochenende nicht sein“, gibt Geschäftsführer Otmar Schork zu. „Für uns ist das natürlich etwas ganz Besonderes, dass der HSV sein erstes Zweitligaauswärtsspiel bei uns bestreiten muss. Aber die drei Punkte wollen wir trotzdem hierbehalten.“ Während der Mannschaftsetat des HSV noch immer bei rund 32 Millionen Euro liegen soll, haben die Sandhäuser ihren Profietat auf das Rekordniveau von 8,5 Millionen Euro in dieser Saison angehoben.
Vor sechs Jahren 4,5 Millionen für ganze Mannschaft
Als Sandhausen vor sechs Jahren aufgestiegen ist, hatte Manager Schork noch 4,5 Millionen Euro für die ganze Mannschaft zur Verfügung. Inklusive Prämien dürfte HSV-Stürmer Pierre-Michel Lasogga in etwa so viel alleine verdienen. „Wir wollen uns nicht größer machen als wir sind. Wir wollen uns aber auch nicht kleiner machen“, sagt Schork. „Wir sind ein Dorfverein, der seit Jahren sehr gute Arbeit leistet.“
Wie gut genau hier gearbeitet wird, ist schwer zu sagen. Anders als in Hamburg findet das Training immer unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Da aber auch nie jemand zugucken möchte, gibt es keine Beschwerden. Offen zugänglich ist hier nur der Kleintierzuchtverein 1920, der in unmittelbarer Nähe zum Stadion zu finden ist. „Die Bescheidenheit, die hier in Sandhausen herrscht, die würde auch vielen Traditionsclubs guttun“, sagt Markus Karl, der noch kurz vor dem Nachmittagstraining Zeit hat, ein wenig in Erinnerungen zu schwelgen.
Von 2005 bis 2007 spielte Karl anderthalb Jahre lang beim HSV. Das war seine erste Profistation. Und der Unterschied von damals zu heute ist gefühlt in etwa so groß wie der Unterschied zwischen Sandhausen und Hamburg. „Ich hatte eine brutal schöne Zeit in Hamburg“, sagt Karl, der seinerzeit in Eimsbüttel wohnte und sich unter Trainer Thomas Doll für die Champions League qualifizierte. „Leider hatte der Club in den vergangenen Jahren nicht mehr das Händchen bei Transfers wie zu meiner Zeit“, sagt Karl. „Damals kamen Wahnsinnskicker wie David Jarolim, Khalid Boulahrouz, Daniel van Buyten und Rafael van der Vaart. Später hat den HSV dann leider auf dem Transfermarkt das Glück verlassen.“ In diesem Sommer kamen sieben HSV-Neuzugänge, von denen sechs ablösefrei waren.
Der Weg vom Bus führt durch die Zuschauer
Kurioserweise hat Markus Karl (32) sein Glück bei Sandhausen in der Provinz gefunden. Der Niederbayer ist unangefochtener Stammspieler und mit mittlerweile 263 Zweitligaspielen Rekordhalter der noch aktiven Zweitligaprofis. „Klar ist man stolz darauf“, sagt Karl. „Ich gehe jetzt auf die 300 zu.“
Karl ist eine Blaupause dafür, wie Sandhausen arbeitet. Gesucht werden in erster Linie gute Fußballer, die für die Vereine in der Bundesliga aber möglicherweise nicht gut genug sind. „Für den HSV war ich noch nicht vom Kopf her bereit“, gibt Karl beim Blick zurück ehrlich zu. Und er ist nicht der einzige Ex-Hamburger. In diesem Sommer schnappte sich der Dorfclub noch Mohamed Gouaida, den HSV-Trainer Titz zunächst mit zu den Profis genommen hatte, der sich dann aber doch nicht durchsetzen konnte. „Mohamed hat keinen geradlinigen Weg in seiner Karriere“, sagt Titz-Kollege Kocak. „Aber nur so konnten wir ihn dann bekommen.“
Ziemlich geradlinig ist dagegen der Weg, den die HSV-Profis am Sonntag vom Bus in die Kabine zurücklegen müssen. Eine Tiefgarage wie in München oder Dortmund gibt es in Sandhausen nicht, einen Busparkplatz am Kabineneingang aber auch nicht. Und so müssen die Hamburger durch die Zuschauer hinter der Haupttribüne entlang bis zur Kabine laufen.
„In Sandhausen merkt man schnell, dass man in der Provinz gelandet ist“, sagt HSV-Fan Wesch. Der Lokalmatador glaubt aber, dass den Hamburgern das „hoffentlich nur eine Jahr in der Zweiten Liga“ guttun werde. „Ich bin zuversichtlich und ich bleibe auch nach dem 0:3 gegen Kiel optimistisch“, sagt Wesch, dessen Optimismus nur bei einer Niederlage in Sandhausen an Grenzen stoßen würde. „Eine Pleite auf dem Dorf muss nicht sein“, sagt er. „Dann wäre wirklich Druck auf dem Kessel.“
Und nicht mal das Hopfenfest Hopfe Zopfe ist ein echtes Trostpflaster.