Becker und Holtby mit schonungsloser Abrechnung. Hunke und Bruchhagen kritisieren HSV. Kiel-Torschütze gelingt späte Revanche.
Becker: Wir müssen ruhig bleiben
Wie konnte das passieren? Alles war angerichtet für einen erfolgreichen Start der Aufstiegstour durch die Zweite Liga. Die Stimmung im Volksparkstadion war sogar Champions-League-würdig. Doch dann folgte die große Ernüchterung. Der HSV erlebte beim 0:3 gegen Holstein Kiel einen Albtraum bei seinem Zweitligadebüt. „Gefühlt haben wir eine gute Vorbereitung gespielt und waren gut drauf“, sagte Sportvorstand Ralf Becker am Tag danach ernüchternd. „Wir haben es nicht geschafft, 100 Prozent abzurufen und sind jetzt alle enttäuscht. Wir müssen unsere Lehren daraus ziehen, ruhig bleiben und wieder aufstehen.“
Becker übt Kritik an Umsetzung der Spielidee
Auch wenn Becker jetzt nicht alles infrage stellen will, ging er hart mit der Leistung seiner Mannschaft ins Gericht, die sich beim Versuch, den Plan von Trainer Christian Titz, umzusetzen, einige Fehler erlaubte. „Man kann immer eine gewisse Idee haben, das ist auch wichtig. Aber die Grundtugenden wie Zweikampfverhalten, Mentalität und Einsatz werden immer die Spiele entscheiden. Wenn du darüber hinaus noch eine spielerische Note hast, kann das den Unterschied ausmachen“, sagte der ehemalige Kiel-Manager, der unzufrieden war über den phasenweise zu lässig wirkenden Auftritt der Spieler.
Becker weiter: „Wir werden nicht erfolgreich sein, wenn wir über unsere Spielidee versuchen, die Spiele zu gewinnen. Das ist gut und wichtig, aber die Basis wird sein, als Mannschaft dagegen zu halten. Das war gestern bitter zu spüren, aber die Erkenntnisse haben wir schon länger. Vor allem in der Zweiten Halbzeit haben wir die nötige Aggressivität und Mentalität vermissen lassen.“ Daher ist er sich sicher, dass „der eine oder andere jetzt gemerkt hat, was Zweite Liga bedeutet“.
Holtby: „Als Kollektiv voll versagt“
Und was sagen die Gescholtenen? Aushilfskapitän Lewis Holtby wählte ähnlich deutliche Worte. „Wir haben als Kollektiv voll versagt, so viele Fehlpässe gespielt, so oft die falsche Entscheidung getroffen. Es fühlt sich scheiße an, so etwas darf uns nicht noch mal passieren. Das war desaströs“, so die schonungslose Abrechnung des Mittelfeldspielers, der sich auch selbstkritisch zeigte. „Wir müssen den Kampf annehmen. Was wir nach 30 Minuten abgeliefert haben, war nichts. Jeder Spieler, auch ich, hat heute versagt. Jetzt sind wir angekommen.“
Die Einzelkritik zum Fehlstart
Doch wie kann der HSV nach diesem kapitalen Fehlstart wieder seinem eigenen Anspruch gerecht werden? „Wir müssen als Mannschaft eine vernünftige Mentalität zeigen, dann bin ich davon überzeugt, dass wir die Spiele gewinnen werden“, hofft Holtby. "Wir müssen jetzt ein anderes Gesicht zeigen."
Titz wollte Bates vor Gegentor längst ausgewechselt haben
Eine Erklärung für die Niederlage ist allerdings auch die vom Schiedsrichtergespann verzögerte Auswechslung des schwachen Abwehrspielers David Bates. Gleich zweimal war der Ball im Aus, als Pierre-Michel Lasogga (kam für Jairo) und Bates-Vertreter Jonas David an der Seitenlinie bereitstanden. Doch der Schiedsrichter ließ den HSV warten. Eine folgenschwere Entscheidung, denn unmittelbar nach einem Einwurf – also einer Spielunterbrechung, in der ein Wechsel möglich gewesen wäre – war es jener Bates, der das 0:1 durch seine Orientierungslosigkeit ermöglichte.
Anstatt rauszurücken, um Torschütze Jonas Meffert zu attackieren, stellte der Schotte einen möglichen Passweg zu und erfüllte damit die gleiche Aufgabe, die Außenverteidiger Gotoku Sakai bereits erledigt hatte. Die Konsequenz: Kiels Mittelfeldspieler hatte freie Schussbahn und schlenzte die Kugel sehenswert in den rechten Torwinkel. Bates entschied sich viel zu spät für eine Grätsche – und wurde für seinen taktischen Fehler bitter bestraft.
Doch das Tor hätte gar nicht fallen müssen, wenn die Hamburger ihren Doppelwechsel früher hätten durchführen dürfen. "Wir haben gemerkt, dass Bates nicht seinen glücklichsten Tag hatte. Wir wollten wechseln, aber es ging nicht. Wir wollten ihn zweimal durchführen und zweimal wurde er nicht durchgeführt", klagte Trainer Christian Titz. Angeblich soll der vierte Offizielle auf den Spielberichtsbogen gewartet haben, lautete die Erklärung der Unparteiischen.
Kommentar: Kein Grund zur Panik: Titz muss seiner Linie treu bleiben
Unabhängig vom verspäteten Wechsel hatte der HSV allerdings bereits zuvor um einen Gegentreffer gebettelt. Das wissen auch die Club-Verantwortlichen um Trainer Titz.
Kiel-Torschütze gelingt späte HSV-Revanche
Apropos Jonas Meffert. Dem Schützen zum 0:1 gelang am Freitagabend seine verspätete Revanche gegen den HSV. Denn jener Meffert war es, dem zu Karlsruher Zeiten das umstrittene Handspiel in der Nachspielzeit des Relegationsrückspiels 2015 unterlief. Den daraus resultierenden Freistoß verwandelte Marcelo Díaz ("tomorrow, my friend") – und der HSV rettete sich in die Verlängerung. Der Rest ist bekannt, Meffert und der KSC waren hinterher reichlich bedient über den Freistoßpfiff von Schiedsrichter Manuel Gräfe. Doch all der Protest half nichts. Drei Jahre später ist Meffert mit seinem Tor in Hamburg teilweise entschädigt worden.
Kippt jetzt die Stimmung beim HSV?
Möglicherweise könnte nach der Klatsche zum Saisonauftakt nun auch die positive Stimmung unter den Fans kippen. Als die Spieler nach dem Abpfiff Richtung Nordtribüne, wo die treusten Anhänger Platz finden, gingen, hagelte es zwar keine Pfiffe, sondern aufmunternde „HSV! HSV!-Anfeuerungsrufe. Doch die andere Wahrheit ist, dass zahlreiche Zuschauer das Stadion nach dem Gegentor zum 0:2 in Scharen verlassen haben. „Damit müssen wir umgehen. Natürlich ist die Stimmung jetzt nicht mehr so wie vorher“, sagt Becker.
Vor dem Spiel herrschte noch eine Euphorie wie seit Jahren nicht mehr. Das Heimspiel gegen Kiel war in Rekordzeit ausverkauft, sogar schneller als jedes Duell in der Clubhistorie gegen Rekordmeister Bayern München. Darüber hinaus verzeichnete der HSV einen so noch nie da gewesenen Mitgliederzuwachs. Für Becker ist deshalb klar, dass die Fans dafür so schnell wie möglich entschädigt werden müssen. „Wir haben jetzt die Chance, nächste Woche vieles wieder gutzumachen.“
Titz will an System festhalten
Dennoch will der HSV nach der herben Ernüchterung nicht grundsätzlich von seinem Plan abweichen. Für Titz steht fest, an seiner Spielphilosophie festzuhalten. Zumal die Hamburger durchaus hätten in Führung gehen können, gar müssen. „Gestern war einfach mal ein Tag, wo es nicht so gut gelaufen ist. Wir sind nicht erfreut über das, was passiert ist. Wir werden jetzt aber auch nicht alles über den Haufen werfen“, sagt der HSV-Coach.
HSV rechnete mit Kieler Offensivstärke
Ohnehin hatte der Trainer bereits im Vorfeld vor der Spielstärke der Kieler gewarnt. Auf der turnusmäßigen Pressekonferenz am Donnerstag prophezeite der Kurpfälzer einen Gegner, der ebenfalls auf Sieg spielen werde – und er sollte mit seiner Einschätzung recht behalten.
„Wenn du hier in diesem Stadion einläufst, schluckst du erstmal und brauchst ein paar Minuten. Nachdem es nach einer halben Stunde noch 0:0 stand und sie gemerkt haben, dass bei uns auch nicht alles läuft, haben sie sich reingespielt. Überrascht über ihre Stärke war ich nicht“, sagt auch Sportchef Becker.
Hunke poltert gegen den HSV und Titz
Diese Problematik kennt der HSV: Immer wenn es nicht läuft, meldet sich ein ehemaliger Funktionär mit schlauen Ratschlägen zu Wort. Diesmal ist es einmal mehr der frühere Präsident und Aufsichtsrat Jürgen Hunke. "Ich bin gar nicht geschockt von dem Grusel-Auftritt gegen Kiel. Weil ich genau weiß, wenn so viel im Vorfeld geredet und gelobt wird, dann kann es nur schiefgehen. Einfach mal still sein und Leistung bringen, das wäre wichtig", sagte der 75-Jährige bei Sport1.
Einmal in Fahrt, hörte Hunke gar nicht mehr auf mit seinem Rundumschlag: "Fußball ist Leidenschaft, rennen – und dann kommt die individuelle Qualität. Umso weniger individuelle Qualität ich habe, umso mehr muss ich laufen. Am Freitag sind zu wenig Spieler gerannt. Beim HSV fehlen weiter die Leidenschaft und der Wille. Fußball ist wie das Leben, am Ende geht es nur um Fleiß, Leidenschaft und Begeisterung."
Für die vermeintlich falsche Einstellung macht Hunke Trainer Christian Titz verantwortlich. "Titz wird nicht fürs Reden bezahlt, sondern für gute Entscheidungen und fürs Handeln, sodass die Truppe gut eingestellt ist", kritisierte Hunke. "Er ist ein netter Kerl, aber nur mit netten Worten erreicht man nichts im Profifußball, er macht viel zu viele Interviews." Ob die 0:3-Pleite allerdings an Titz' Interviews gelegen hat, darf stark bezweifelt werden.
Bruchhagen: "Das sind Absteiger"
Und noch ein Ex-Funktionär hat sich in die Analyse über den HSV-Fehlstart eingeschaltet. Der frühere Clubboss Heribert Bruchhagen nahm sich bei Sky die Spieler, die er selber noch gut kennt, zur Brust. „Diese Spieler sind Absteiger. Und die haben verdammt noch mal die Pflicht, sich jetzt auch ins Zeug zu legen, um das wiedergutzumachen. Man muss nicht dankbar sein, dass die Herren Hunt, Holtby und Lasogga, oder wie sie auch immer heißen, weiterhin bereit sind, für den HSV zu spielen. Da lach‘ ich mich doch tot. Die haben die Pflicht, für den HSV zu spielen und den Schaden wieder auszugleichen", sagte Bruchhagen.
Wann kommt ein neuer Verteidiger?
Unabhängig von den harten Worten Hunkes, suchte bei den HSV-Verantwortlichen keiner nach Ausreden. Auch die junge Innenverteidigung mit Rick van Drongelen (19) und David Bates (21) wollte keiner an den Pranger stellen. Dabei war es vor allem der schottische Neuzugang Bates, der einen rabenschwarzen Tag erwischte. Sein schwacher Auftritt (nur 20 Prozent gewonnene Zweikämpfe) bestätigte den Eindruck, dass die Hamburger in der Abwehr noch einmal nachlegen müssen. „Dass wir auf der Position jemanden suchen, war auch vorher bekannt. Daran hat sich nichts geändert“, sagt Becker nüchtern.
Van Drongelen zieht sich Kopfverletzung zu
Gegen Kiel zog sich der nächste Abwehrspieler Blessuren zu. Gezeichnet von einem schmerzhaften Luftduell mit dem eingewechselten "Storch" David Kinsombi trug Rick van Drongelen einen Turban, um einen dicken Eisbeutel zu am Kopf zu befestigen. "Der Kopf dreht sich ein bisschen, aber es ist okay. Ich gehe gleich zum Arzt", sagte der beinharte Niederländer, der wohl nicht nur wegen seines geschwollenen Gesichts, sondern auch wegen der Leistung des Teams geknickt wirkte. "Die erste Halbzeit war schon nicht gut, aber wir hatten immerhin viele Torchancen. Die zweite Halbzeit war schlecht, wir haben zu viel Raum verschenkt, obwohl wir wussten, dass Kiel gut kontert", analysierte der Abwehrchef, der noch einer der besseren Hamburger auf dem Platz war.
Die Bilder des Debakels:
Für seinen Partner in der Innenverteidigung, David Bates, fand er aufmunternde Worte. "Er ist neu, hat aber auch schon gezeigt, was er kann. Es war ein schwieriges Spiel für alle. Manchmal ist man nicht gut drin im Spiel, aber das passiert allen. Mir ist es auch schon passiert. Wir müssen uns gegenseitig helfen", forderte van Drongelen.
Markiger Spruch von Kiel-Coach
Das 3:0 beim HSV war für Kiels Trainer Tim Walter offenbar nicht genug. Auf die Frage, ob dieser Sieg ein perfekter Start in die Saison sei, antwortete der 42-Jährige markig. "Alles lief nicht perfekt, sonst hätten wir noch zwei Dinger gemacht." Ein Lob hatte der kritische Coach dann aber doch noch für seine Spieler übrig. "Was wir in der zweiten Halbzeit gespielt haben, war grandios. Wir haben den HSV nicht mehr atmen lassen", analysierte Walter, den die Norddeutschen vor der Saison vom FC Bayern verpflichtet hatten, wo er als Trainer der zweiten Mannschaft tätig war.
Van der Vaarts dänisches Abenteuer geht weiter
Rafael van der Vaart hat einen neuen Club gefunden: Der langjährige HSV-Kapitän hat beim dänischen Erstligisten Esbjerg fB einen Einjahreskontrakt unterschrieben. Zuletzt stand der 35-Jährige zwei Jahre beim dänischen Meister FC Midtjylland unter Vertrag. Dort schaffte er es in der vergangenen Saison allerdings nur noch selten in den Kader.