Hamburg. Mit 47 Jahren ist der Coach die größte Hoffnung des HSV. Sein Weg wurde von Schicksalsschlägen geprägt. Ein Porträt.
Es ist Sonntag, der 11. März, als bei Brigitte und Johannes Titz in Edingen-Neckarhausen das Telefon klingelt. Ihr Sohn Christian meldet sich aus Hamburg. Er ist unruhig. Es bestehe die Möglichkeit, Trainer der HSV-Profis zu werden. Und er wisse nicht, was er machen solle. Trainer einer Bundesligamannschaft zu sein, davon hatte Christian Titz immer geträumt. Doch der HSV steht kurz vor dem ersten Abstieg. Will er der Trainer sein, der mit diesem historischen Ereignis für immer verbunden sein wird?
Johannes Titz tut das, was er in diesen Momenten immer tut. Er erzählt seinem Sohn eine Geschichte von früher. Von dem jungen Christian Titz, der immer so ehrgeizig war, aber viele Rückschläge verkraften musste. Er erinnert ihn an den wichtigsten Wert, den er ihm in der Jugend mit auf den Weg gegeben hat: Arbeite immer hart für deine Ziele und Träume, gib niemals auf. Und dann sagt Johannes Titz noch den Satz, den er immer sagt, wenn sein Sohn eine Unruhe in sich verspürt: „Schlaf erst mal eine Nacht drüber.“ Gesagt, getan. Am nächsten Morgen entscheidet sich Christian Titz, das Angebot des HSV anzunehmen und vom U-21-Trainer zum Chefcoach der Bundesligamannschaft aufzusteigen.
Titz muss mit Rolle als Hoffnungsträger umgehen
Dreieinhalb Monate später sitzt Titz auf der Treppe zwischen Volksparkstadion und Trainingsplatz und spricht über sich, sein Leben und den HSV. Der Club ist mit ihm zwar das erste Mal in die Zweite Liga abgestiegen, doch in den acht Spielen holte er mit seinem Team so viele Siege wie die Trainer Markus Gisdol und Bernd Hollerbach in 26 Spielen zuvor. Mit seinem freundlichen Auftreten und der mutigen Spielidee eroberte der Trainer die Herzen der Fans innerhalb weniger Wochen und ist nun so etwas wie der Hoffnungsträger für einen erfolgreichen Neustart. „Ich lebe aus der Sichtweise meiner Kindheit einen Traum, aber jetzt fühle ich mich nicht wie im Traum“, sagt Titz und blickt auf das Trainingsgelände. „Wenn ich ein grünes Spielfeld sehe, verspüre ich eine große Zufriedenheit und Lust auf Fußball. Das war immer so, und das ist auch heute noch so“, sagt der 47-Jährige.
Dass Christian Titz einmal seine große Leidenschaft zum Beruf machen würde, war ihm schon klar, als er sich noch als kleiner Junge mit seinem Bruder Stephen in Neckarhausen ein Zimmer teilte und jeden Tag auf einem Ascheplatz Fußball spielte. Die Familie lebte in bescheidenen Verhältnissen. „Meine Eltern waren immer ein Rollenvorbild für mich. Sie haben mir vor allem eines mit auf den Weg gegeben: Wenn du etwas erreichen willst, musst du bereit sein, mehr zu tun als die anderen.“
"Ich bin jemand, der nie aufgibt"
Dass Titz erst im Alter von 47 Jahren im Rampenlicht des Profifußballs auftaucht, hat viel damit zu tun, dass er in seinem Leben schon häufig zurückgeworfen wurde. Gesundheitliche Probleme, Todesfälle im Freundeskreis und in der Familie, persönliche Niederlagen im Sport. Aber immer wieder brachte ihn seine stärkste Eigenschaft zurück auf den Weg. „Ich bin jemand, der nie aufgibt. Das zieht sich wie ein roter Faden durch mein Leben“, sagt Titz.
Womöglich wäre er schon als Spieler in der Bundesliga gelandet. Doch ein verhängnisvoller Zeckenstich ließ seinen Traum schon früh in weite Ferne rücken. Titz war 16 Jahre alt und in seiner Region eines der größten Talente, als ihn eine Viruserkrankung stoppte. Immer wieder ereilten ihn Fieberschübe. Sein Körper war geschwächt, Training im Leistungssport nicht möglich. Und wenn Hoffnung aufkeimte, dass es doch noch gehen würde, bremste ihn immer wieder die Krankheit aus.
Titz beschreibt sich selbst als "jähzornig"
Dass eine Zecke die Ursache war, erfuhr Titz erst 20 Jahre später, als es neue Testverfahren gab. Da hatte Titz schon lange einen neuen Lebensweg eingeschlagen. Fachabitur, BWL-Studium, die ersten Trainertätigkeiten. Doch ganz aufgeben wollte er die aktive Karriere noch nicht. Während des Studiums versuchte er es noch einmal, schaffte es bis in die Dritte Liga. Doch die gesundheitlichen Rückschläge holten ihn auch da wieder ein. „Fußball spielen war für mich alles. Doch ich musste lernen zu akzeptieren, dass es nicht mehr ging. Ich war immer sehr jähzornig. Das bin ich noch immer. Aber heute kann ich meinen Jähzorn kontrollieren.“
Einzusehen, dass sein Körper nicht so wollte wie sein Kopf, war einer der schwierigsten Prozesse im Leben des Christian Titz. Diese Einsicht hat ihn viel Kraft gekostet. Einerseits. Andererseits hat sie ihm neue Kraft verliehen. Titz intensivierte seine Trainerlaufbahn. Er gründete eine Fußballschule, arbeitete mit Kindern und Jugendlichen, baute für den US-Fußballverband ein Scoutingsystem in Europa auf. Und schrieb Fachbücher. Mehr als 50 Werke sind bis heute entstanden. Zeit für seine Fachliteratur bleibt heute aber kaum noch.
Was seine Eltern ihm im neuen Job mit auf den Weg gaben
Die wenigen Stunden, in denen er vom Fußball abschalten kann, verbringt er mit der Familie. Titz wohnt mit seiner Frau Sabrina und den beiden Kindern Mia (8) und Jan-Luca (13) in Halstenbek. Seine Eltern und sein Bruder leben noch in Edingen-Neckarhausen, der Kleinstadt bei Heidelberg. So oft es geht, besucht er sie. Der Trainer mag die Ruhe, wenn er zu Hause ist. Doch seit er beim HSV das sportliche Kommando übernommen hat, ist es damit vorbei, sobald er das Haus verlässt.
„Du stehst jetzt immer unter Beobachtung. Diese Form der öffentlichen Wahrnehmung hat mich überrascht“, sagt Titz. Auch darüber hat er mit seinem Vater gesprochen. Und wieder waren es dessen Worte: Verhalte dich anderen Menschen gegenüber mit Anstand und Respekt. Behandele die Menschen immer so, wie du auch behandelt werden willst.
Es gab noch nicht viele HSV-Trainer, die vor jeder Trainingseinheit die Zuschauer mit einem freundlichen „Guten Morgen“ begrüßten und sich so volksnah gaben wie Titz. Man könnte fast meinen, der Trainer genieße die neue Aufmerksamkeit. Doch dem Fußballlehrer geht es um etwas anderes: Authentizität. „Ich habe mich als Typ nicht verändert“, sagt Titz. „Ich bin nicht da, um mich für die Menschen zu verstellen. Ich bin hier, um mit der Mannschaft zu arbeiten und mich so zu geben, wie ich bin. Ich entscheide für die Sache, nicht für die Öffentlichkeit.“
Titz weiß aber auch, dass das Leben als HSV-Trainer nicht immer so erfolgreich verlaufen wird wie in den Spielen der vergangenen Monate. Dass es Rückschläge geben wird. Krisen. Es ist etwas, wovor seine Mutter Brigitte Angst hat. Vor den Momenten, in denen ihr Sohn Niederlagen erklären muss. In denen er öffentlich kritisiert wird. Momente, auf die Christian Titz seine Mutter bereits vorbereitet hat. „Ich sage meiner Mutter immer: Sei froh, dass wir das hier machen dürfen. Niederlagen gehören zum Sport und zum Leben dazu.“
Titz steht vor einem steinigen Weg
Die vielen Rückschläge in seinem Leben haben ihn Demut gelehrt. „Zufriedenheit bedeutet für mich Gesundheit.“ Titz engagiert sich für Kinder mit rheumatischen Erkrankungen. Auch sein Sohn war davon betroffen. Heute geht es ihm wieder gut. Als Vater versucht er seinen Kindern die Werte zu vermitteln, die ihm seine eigenen Eltern mit auf den Weg gegeben haben. Und auch als Trainer will Titz seinen Spielern seine wichtigste Eigenschaft mit auf den Weg geben: den Willen, nicht aufzugeben.
Christian Titz hat sein großes Ziel erreicht. Sein Weg im Fußball soll mit der Arbeit als Trainer beim HSV aber noch nicht zu Ende sein. Nachdem er der erste Trainer war, der mit dem HSV abgestiegen ist, will er der erste Trainer werden, der mit dem HSV in die Bundesliga aufsteigt. Titz weiß, dass es ein steiniger Weg werden wird. Und dass er sich immer wieder an den Satz erinnern muss, den sein Vater sagen würde, wenn er ihn in schwierigen Momenten wieder anruft: Aufgeben kommt nicht infrage.