Hamburg. Drei Spieltage vor Schluss sieht sich der HSV plötzlich im mentalen Vorteil gegenüber der Konkurrenz aus Wolfsburg und Freiburg.
"Es sieht aus, als wären wir uns unserer Situation nicht bewusst." Hat wer gesagt? Richtig, Wolfsburgs Kapitän Paul Verhaegh im Anschluss an die 0:3-Niederlage bei Borussia Mönchengladbach. Tatsächlich dürfte der Konkurrenz im Keller der Fußball-Bundesliga nicht nur das nackte Ergebnis des VfL neue Hoffnung im Abstiegskampf geben, sondern vor allem auch das desolate Erscheinungsbild der Niedersachsen. Zu viel ging im Freitagsspiel schief, die Abwehr ließ sich ein ums andere Mal einfach überrumpeln.
In Hamburg, der Hochburg des Abstiegskampfes, macht man sich das angeknackste Selbstvertrauen des kommenden Gegners bereits zu Nutze. "Aus psychologischer Sicht wäre ich jetzt lieber der Jäger als der Gejagte", sagte Lewis Holtby am Sonnabend in Richtung der "Wölfe", die der HSV-Profi kurz zuvor durch seinen Siegtreffer gegen Freiburg zusätzlich unter Druck gesetzt hatte. Nur noch fünf Punkte beträgt der Abstand zwischen den norddeutschen Kellerkindern, am 32. Spieltag am nächsten Sonnabend kommt es nun zum direkten Aufeinandertreffen.
Streich braucht eine Beruhigungszigarette
Bei einem Sieg gegen den ehemaligen eigenen Retter-Trainer Bruno Labbadia würde der Rückstand auf nur noch zwei Punkte anschmelzen. "Wir können jetzt in Wolfsburg wieder in Schlagdistanz kommen, darauf müssen wir uns konzentrieren", sagte HSV-Trainer Christian Titz nach dem Erfolg gegen den SC Freiburg, der bei fünf Punkten Vorsprung inzwischen ebenfalls wieder die Abstiegskampf-Haudegen von der Elbe im Nacken spürt.
Turm Pollersbeck: Die HSV-Profis in der Einzelkritik
Nicht auszuschließen, dass den Schwarzwäldern die Nerven noch weitere Streiche spielen werden – der Trainer wirkt angesichts der Anhäufung diskussionswürdiger Schiedsrichterentscheidungen zunehmend bedient. "Ich sage nichts mehr. Sollen die Verantwortlichen doch tun, was sie tun wollen", blaffte Christian Streich im Volksparkstadion, wo sein Spieler Caglar Söyüncü zuvor einen unglücklichen Platzverweis kassiert hatte. Die Debatten um Gelb-Rot für Nils Petersen und den Halbzeit-Elfmeter von Mainz waren da längst Geschichte.
"Die Jungs verstehen die Welt nicht mehr", sagte Streich, der sich nach der Partie in Hamburg erst einmal eine Beruhigungszigarette anstecken musste. Diesmal haderte er auch damit, dass HSV-Profi Matti Steinmann von Referee Benjamin Cortus nach einem Foul an Mike Frantz nicht vom Platz gestellt wurde. "Woche für Woche" werde sein Team benachteiligt, meinte der 52-Jährige, der sich nun auch als Mentaltrainer gefordert sieht. "Wir müssen schauen, dass wir das emotional weghalten", sagte Streich.
Sakai und Holtby angriffslustig
Wolfsburg und Freiburg wackeln also, der HSV gibt sich plötzlich gefestigt wie lange nicht. Im Volkspark wissen sie nur zu gut: Jetzt geht es in die entscheidende Phase, die kommenden Duelle werden auch im Kopf entschieden. "Wir wollen keine Spiele mehr verschenken", kündigte Kapitän Gotoku Sakai an und klingt dabei ebenso angriffslustig wie seine Kollegen. "In Wolfsburg müssen wir wieder diesen absoluten Überlebensfight liefern", sagte Holtby nach der "Willensleistung" gegen Freiburg, während der er auch immer wieder die eigenen Fans aufpeitschte.
In Wolfsburg klingen die Ansagen weitaus zweckmäßiger. "Wir haben noch drei Spiele, in denen wir funktionieren müssen", sagte Labbadia vor dem Showdown mit seinem Ex-Verein, den er vor drei Jahren im Relegationskrimi gegen den Karlsruher SC vor dem Abstieg bewahrt hatte. Das Kunststück bescherte Labbadia anschließend den Titel "Hamburger des Jahres" – eine vergleichbar emotionale Bindung des Hessen zu seiner aktuellen Wahlheimat lässt sich bislang nicht feststellen.
Pollersbeck gibt sich demütig
Trotz der aufkommenden Psychospiele gibt es in Hamburg aber auch vorsichtige Töne. "Wir haben noch nichts erreicht", sagte Trainer Titz nach dem 1:0 über Freiburg. "Das fühlt sich heute gut an, aber ab morgen muss der Fokus auf Wolfsburg liegen", sagte Holtby. Und Pollersbeck: "Wir müssen demütig bleiben. Jetzt ist jedes Spiel überlebenswichtig.“ Für den Endspurt im Klassenkampf könnte sich der feierfreudige U21-Europameister dennoch schon einmal ein neues Mottolied für seine Musikbox suchen.
Wir hätten da einen Vorschlag: "Was einmal war, ist vorbei und vergessen und zählt nicht mehr." Zu hören in Jürgen Marcus' Schlager-Klassiker "Eine neue Liebe ist wie ein neues Leben".