Bremen/Hamburg. Die Horrorserie geht weiter, doch Bremens Siegtor fällt unter fragwürdigen Umständen. HSV-Knallköpfe provozieren Unterbrechungen.
Immer wenn man glaubt, dass der HSV nicht tiefer sinken kann, belehrt uns der Club eines Schlechteren. Zwei Tage nach dem fahrlässigen Unfall von Problem-Profi Vasilije Janjicic verloren die Hamburger das 108. Nordderby der Bundesliga bei Werder Bremen mit 0:1 (0:0) – und das unter ebenso fragwürdigen wie skandalösen Umständen. Der Abstieg scheint angesichts einer Horrorserie von elf Spielen ohne Sieg und nunmehr sieben Punkten Rückstand auf den Relegationsplatz unabwendbar.
Hätte, hätte, Fehlerkette: HSV in der Einzelkritik
„Es tut brutal weh, aber wir sind der HSV und werden weiter kämpfen“, sagte Stürmer André Hahn am Sky-Mikrofon. Selbst Vorstandschef Heribert Bruchhagen sah nach dem Spiel nur noch eine "Restchance" auf den Klassenerhalt: "Die Situation ist mehr als prekär." Aber über das Bremer Siegtor und vor allem das Verhalten der HSV-Anhänger wird noch zu reden sein. Der Reihe nach.
Hollerbach überrascht mit Jatta
Trainer Bernd Hollerbach veränderte seine Startelf auf gleich drei offensiven Positionen. Dass der frühere Bremer Aaron Hunt und auch André Hahn nach seinem Joker-Tor gegen Leverkusen eine Chance bekommen würden, durfte man noch erwarten. Überraschend war dagegen die Berufung von Bakery Jatta. Der 19-Jährige war letztmals bei der 0:3-Niederlage in Leverkusen Ende September bei den Profis zum Einsatz gekommen. Gleichzeitig erhöhte Hollerbach das Risiko und kehrte in der Abwehr von der Fünfer- auf die Viererkette zurück – eine Reaktion auch auf die offensive 4-3-3-Formation von Bremens Trainer Florian Kohfeldt. "Werder spielt außen sehr hoch", sagte Hollerbach.
Mergim Mavraj saß deshalb zunächst auf der Bank, ebenso wie die Stürmer Fiete Arp und Bobby Wood. Walace, der erst am Vortag von seinem Babyurlaub in Brasilien zurückgekehrt war, durfte von Beginn an ran. Hollerbach war es "wichtig, dass wir von Anfang an aggressiv sind und unsere Chance vorn suchen". Es sei zwar nur eines von elf Endspielen für seine Mannschaft. "Aber wir können mit einem Sieg heute viel richten."
Fans sorgen für Pyro-Eklat
Seine Mannschaft schien das verstanden zu haben. Doch zunächst machten HSV-Fans die Tribüne zum Hauptschauplatz: Sie entfachten kurz vor Beginn des Spiels Feuerwerkskörper und hörten damit auch nicht auf, als sie vom Stadionsprecher zum dritten Mal dazu aufgefordert wurden. Schiedsrichter Felix Zwayer unterbrach die Partie deshalb nach drei Minuten zunächst.
Als er zum zweiten Mal anpfiff, spielte der HSV weitaus mutiger, als man es nach den verzagten Auftritten der vergangenen Wochen hatte erwarten dürfen – und wäre beinahe früh belohnt worden. Gut eine Viertelstunde war gespielt, als ebenjener Jatta überraschend im Fünfmeterraum zum Abschluss kam. Doch Niklas Moisander grätschte im letzten Moment dazwischen. Ähnlich knapp war es eine weitere Viertelstunde später auf der Gegenseite: Diesmal war es HSV-Verteidiger Rick van Drongelen, der einen Schuss von Werder-Stürmer Max Kruse blockte (32. Minute).
Drohte ein Abbruch?
Doch wenig später ballerten sich wieder die HSV-Hooligans in den Mittelpunkt. Waren anfangs noch vornehmlich bengalische Feuer und Böller gezündet worden, wurde jetzt ein ganzes Feuerwerk abgebrannt. Wieder sah sich Zwayer gezwungen, den Ball vorübergehend an sich zu nehmen.
Würde das Derby womöglich abgebrochen werden müssen? Der HSV setzte via Twitter eine entsprechende Warnung an die Anhänger ab und berief sich ausdrücklich auf das Schiedsrichtergespann.
Doch Zwayer beschwichtigte später. Er habe mit seinem Team in der Halbzeit "über mögliche Szenarien gesprochen". Ein Spielabbruch sei aber nie Thema gewesen.
Wood kommt spät, Arp noch später
Wenn die Böller eine Initialzündung waren – der Kalauer sei erlaubt –, dann für Werder. Die Gastgeber verlagerten in der zweiten Halbzeit das Geschehen nun immer weiter in die Hamburger Spielhälfte. Schon kurz nach Wiederanpfiff retteten HSV-Torwart Christian Mathenia und Linksverteidiger Douglas Santos in höchster Not, bevor Bremens Ludwig Augustinsson den Ball ins Tor stochern konnte (47.). Weitere zündende Ideen aber blieben aus. Der Vollständigkeit halber sei Hunts Schuss aus 20 Metern erwähnt, der knapp rechts am Bremer Tor vorbeiflog (61.).
So etwas wie einen Spielzug aber gab es erst zehn Minuten später zu sehen, als Maximilian Eggestein aus halbrechter Strafraumposition knapp am HSV-Tor vorbeizirkelte (72.). Wenig später – zu spät? – spielte Hollerbach seinen ersten Joker aus und wechselte Bobby Wood für Jatta ein, der sich auf seinem Weg zur Seitenlinie so viel Zeit ließ, als würde seine Mannschaft 2:0 führen. Wäre der HSV etwa auch mit einem Punkt zufrieden? Oder war es die Einsicht, dass die Qualität nicht reicht, um gegen einen akut abstiegsgefährdeten Club zu gewinnen?
Diskussion über Siegtor
Alles deutete auf „ein 0:0 der furchtbaren Art“, wie es Sky-Experte Christoph Metzelder formulierte. Doch dann war da die 86.Minute. Nach einem Ballverlust von Wood sprintete der eingewechselte Aron Johannsson auf der linken Strafraumseite in einen langen Pass und drückte die Kugel dann aus spitzem Winkel unter Mathenia hindurch. Rick van Drongelen wollte auf der Linie noch retten, doch der Niederländer befördert den Ball selbst ins Tor, weil ihn der ebenfalls eingewechselte Ishak Belfodil entscheidend behinderte.
Aber stand Belfodil bei Johanssons Schuss nicht im Abseits? Zwayer und auch der Videoschiedsrichter in Köln verzichteten auf eine Überprüfung. HSV-Stürmer Hahn protestierte: „In meinen Augen war das Tor irregulär.“ Vorstandschef Bruchhagen redete sich regelrecht in Rage: "Was sind das in Köln für Leute? Da braucht man keine Linien zu ziehen, das ist Abseits!"
Aber Zwayer verteidigte später seine Entscheidung: "Sie war knapp, aber korrekt." Selbstverständlich sei die Situation in Köln überprüft worden. Ergebnis: kein Abseits. Trainer Hollerbach brachte eine dritte Meinung ins Spiel: Für ihn war Belfodils Einsatz gegen van Drongelen irregulär. "Es war auf jeden Fall ein Foul", sagte Hollerbach. "Wäre das erkannt worden, hätten wir einen Punkt mitgenommen.“
Bruchhagen räumt Manko ein
Kurz darauf stand der Schiedsrichter schon wieder im Mittelpunkt. HSV-Fans hatten diesmal eine Leuchtrakete abgefeuert, die direkt neben HSV-Spielmacher Hunt auf dem Rasen landete. Wieder musste die Partie kurzzeitig unterbrochen werden. Wenig später war dann auch das HSV-Feuer erloschen – und Hamburg war, neben dem Fußball insgesamt, der große Verlierer.
Bruchhagen haderte zwar, dass ein Punkt für den HSV verdient gewesen wäre, räumte aber auch das große Manko ein: Toreschießen. 18 Treffer nach 24 Spieltagen sind die Bilanz eines Absteigers. Bruchhagen: "Man muss im Abstiegskampf auswärts auch mal ein Tor erzwingen. Wir spielen offensiv nicht zwingend genug, deshalb stehen wir nicht zum ersten Mal mit leeren Händen da." Selbst Fiete Arp, nach seinem Bundesliga-Debüt im Hinrundenduell zwischenzeitlich zum Hoffnungsträger hochgejubelt, scheint nur noch zur tragischen Figur zu taugen. Hollerbach wechselte den 18-Jährigen erst in der 90. Minute ein.
Und nun? "Dieses Ergebnis tut sehr weh, aber wir müssen konzentriert bleiben", sagte der Trainer, der auch im fünften Spiel als HSV-Trainer sieglos blieb. Sollte diese Serie auch nach dem nächsten Endspiel gegen den Tabellendrittletzten Mainz 05 am kommenden Sonnabend (15.30 Uhr) noch Bestand haben, wäre es schon fast fahrlässig, würden Bruchhagen und Todt nicht für die Zweite Liga planen. Es sei denn, sie wissen, dass sie selbst für den Neuanfang beim HSV nicht mehr eingeplant sind.
Wie kam die Pyrotechnik ins Stadion?
Bleibt die Frage, wie die Pyrotechnik trotz der hohen Sicherheitsauflagen ins Stadion gelangen konnte. Erste Vermutung: Sie wurde in einem Rucksack über den Zaun geworfen. Dabei war die brisante Partie von den Behörden aufgrund der Vorkommnisse in den vergangenen Jahren vorsorglich als Hochrisikospiel eingestuft worden. Die Sicherheitsorgane rechneten mit mindestens 600 gewaltbereiten oder -geneigten Anhängern beider Vereine – es wurden schließlich sogar 800.
Ihnen standen knapp 900 Polizistinnen und Polizisten gegenüber. Das Bremer Ordnungsamt hatte sicherheitshalber Fanmärsche untersagt, um „Gewalttaten und sonstige Störungen“ zu verhindern. An mehreren Bahnhöfen war es temporär verboten, Glasflaschen, Getränkedosen, Schutzbewaffnung, Vermummungsgegenstände und, ja, auch pyrotechnische Gegenstände mitzuführen.
HSV-Ultras versuchen Kneipe zu stürmen
Tatsächlich verlief die Anreise der HSV-Fans zunächst weitgehend ohne Zwischenfälle, sieht man einmal von einem blauen Rauchtopf ab, der im Hauptbahnhof entfacht wurde. Der Zündler musste wieder die Heimreise antreten. Die 1800 friedlichen Hamburger Anhänger, die mit Metronom-Zügen angereist, wurden ohne weitere Zwischenfälle zu den Busshuttles geleitet und ins Stadion gefahren. Der HSV-Mannschaftsbus, im Vorjahr von Bremer Hooligans mit Farbbeuteln attackiert und beschädigt, gelangte diesmal unfallfrei zum Stadion – wenn auch auf einem neuen Weg.
Selbst die 200 HSV-Ultras, die schon am Vormittag individuell angereist waren und die Gastronomie-Szene in der Bremer Neustadt unsicher machten, konnten sich nicht wie gewünscht austoben. Als 30 teilweise vermummte Hamburger eine Gaststätte mit Bremer Ultras stürmen wollten, gingen die Einsatzkräfte rechtzeitig dazwischen. Die HSV-Hooligans blieben bis Spielende in Gewahrsam, gegen sie wird wegen Landfriedensbruchs ermittelt.
Ein Verletzter, eine Festnahme
Offenbar waren aber trotzdem noch genügend HSV-Knallköpfe ins Stadion gelangt. Eine Person wurde durch die Pyrotechnik verletzt und musste ins Krankenhaus gebracht werden. Ein mutmaßlicher Krawallbruder wurde vorläufig festgenommen. "Das sind für mich keine Fans", schimpfte Bruchhagen, "wir müssen daran arbeiten, dass solche Leute nicht ins Stadion kommen." Und Sportchef Todt hatte wie viele den Eindruck, dass der Eklat dem HSV auch sportlich geschadet hatte.
Sportrechtliche Konsequenzen wird er in jedem Fall haben, zumal die HSV-Anhänger Wiederholungstäter sind. Aber das ist derzeit fast noch das geringste Problem dieses Vereins.