Hamburg. Carsten Kober und Kyriakos Papadopoulos über ihre Lieblingsgrätsche, anstrengende Gegenspieler und das schlechte Gewissen.
Knapp drei Wochen ist es her, als das Abendblatt in der Einzelkritik nach dem 1:2 in Berlin bei Kyriakos Papadopoulos schrieb, dass der Grieche in bester Carsten-Kober-Manier zum „Master of Grätsche“ mutierte. Es dauerte nur einen Tag, ehe das Original anrief. „Bei aller Liebe, aber es gibt nur einen ,Master of Grätsche‘“ sagte Kober. Der mittlerweile 50 Jahre alte Versicherungsvertreter war in den 80er- und 90er-Jahren in den Bundesligastadien ein gefürchteter Gegenspieler. Schnell war die Idee geboren: ein Doppelinterview mit Kober und Papadopoulos über – klar, das Grätschen.
Herr Kober, hat der HSV mit Kyriakos Papadopoulos nicht doch endlich einen würdigen Nachfolger des „Master of Grätsche“ gefunden?
Carsten Kober: Ein bisschen ärgere ich mich ja, dass ich mir den „Master of Grätsche“ damals nicht patentiert habe. Aber von der Spielweise her ist Papa natürlich ein sehr würdiger Nachfolger.
Was machte eine gute Grätsche aus?
Kyriakos Papadopoulos: Am wichtigsten ist, dass man das Spiel lesen kann. Man braucht ein Gefühl für Raum und Zeit. Man muss nicht wissen, wo der Ball jetzt ist, man muss wissen, wo der Ball gleich sein wird.
Kober: Das Tackling muss so sitzen, dass du den Ball satt triffst, bevor du den Gegenspieler möglicherweise mitabräumst. Früher war das einfacher, weil das Spiel nicht so schnell war.
Früher gab es keinen Kylian Mbappé …
Kober: Es gab nicht diese Hochgeschwindigkeitsfußballer, die in irgendwelchen Nachwuchsleistungszentren gezüchtet werden. Wenn ich zum Beispiel an Deutschlands Tor am Dienstag zum 2:2 gegen Frankreich denke, dann wüsste ich nicht, wie man bei dieser Geschwindigkeit noch mit einer Grätsche irgendetwas verhindern soll. Auch wir hatten früher Super-Techniker: Uwe Bein und Thomas von Heesen zum Beispiel. Aber da ging trotzdem alles ein bisschen mehr sutsche ab.
Kann man eine gute Grätsche lernen?
Papadopoulos: Man hat es oder nicht. Das kann man nicht lernen.
Kober: Dem Techniker ist seine Technik ja meistens in die Wiege gelegt. Genauso ist das bei der Grätsche. Man braucht Timing.
Papadopoulos: Das ist beim Kopfballspiel ähnlich. Natürlich kann man das Köpfen trainieren. Aber wenn einem das Timing fehlt, dann bringt das Training einfach nicht so viel.
Kober: Ich war früher top im Defensivkopfball und alles andere als top im Offensivkopfball. Du bist begnadet, weil du beides kannst.
Papadopoulos: Es gibt zwei völlig unterschiedliche Arten des Kopfballspiels. In der Defensive muss man hier treffen (zeigt mit dem Zeigefinger auf die Stirn), und in der Offensive muss man hier treffen (zeigt zwischen die Augen). Aber wie beim Grätschen ist das Gefühl für den Moment entscheidend.
In der Kreisliga heißt es immer: Ein Abwehrspieler hat schon verloren, wenn er grätscht. Er sollte den Ball ablaufen.
Papadopoulos: Da haben die Kreisligatrainer recht. Zumindest in der Theorie. In der Praxis muss man das nach Situation entscheiden. Wenn man grätscht, sollte man den Ball haben.
Kober: Otto Rehhagel hat früher immer reingebrüllt: „Kober, du kannst nichts außer grätschen.“ Er stand eher auf filigrane Abwehrspieler wie Rune Bratseth. Mir war das egal. Ich habe mich gerne dreckig gemacht.
Vor einem halben Jahr hat Mats Hummels mal nach der inoffiziellen „Grätsche der Saison“ gegen Frankfurts Branimir Hrgota gesagt, dass eine gelungene Grätsche für einen Abwehrspieler genauso schön wie ein Tor für einen Stürmer sei. Hat er recht?
Kober: Klar. Das ist das ultimative Gefühl, wenn das ganze Stadion nach einer guten Grätsche abgeht.
Papadopoulos: Mit der perfekten Grätsche zum perfekten Zeitpunkt kann man ein Stadion wachrütteln.
Kober: Niemand soll sich verletzen, aber ein bisschen wehtun gehört auch dazu. Dann ist Druck auf dem Kessel.
Papadopoulos: Mir gibt so ein Moment unglaublich Energie, ich muss diese Energie dann auch rausschreien. Das ist wirklich wie nach einem Tor.
Kober: Es puscht einen selbst – und es pusht die ganze Mannschaft …
Papadopoulos: Und der Gegner wird eingeschüchtert. Wenn du deinen Gegenspieler erst einmal abgeräumt hast, dann überlegt er sich zweimal, ob er es noch einmal bei dir versucht.
Kober: Wir haben früher den Gegenspieler gerne zu Beginn des Spiels an der Mittellinie abgeräumt. Die „Sport Bild“ hat mal eine Geschichte über mich gemacht mit der Zeile: „Der Mörder von der Mittellinie“. Das ging mir aber ein bisschen zu weit. Es ging einfach darum, ein Zeichen zu setzen.
Und ist die Taktik aufgegangen?
Kober: Na klar. Ulf Kirsten war so ein Kandidat. Toller Stürmer. Aber richtig gut war der nur zu Hause. Auswärts hat man ihm zum Anfang ein paar mitgegeben, das Stadion grölte, und Ulf war plötzlich ein ganz anderer Spieler.
Bereitet man sich explizit auf seinen Gegenspieler vor?
Papadopoulos: Nein. Wir spielen ja nicht mehr Mann gegen Mann wie zu Carstens Zeiten. Bei euch gab es noch den klassischen Manndecker, oder?
Kober: Ja, wir waren drei Manndecker – und hatten den Libero noch dahinter.
Papadopoulos: Meistens der beste Fußballer und der langsamste, oder?
Kober: Das kann man so sagen. Frank Rohde war so ein Typ. Klasse Übersicht, nicht so klasse Sprinter.
So eine Absicherung gibt es nicht mehr …
Papadopoulos: Das Spiel ist ja ganz anders geworden. Aber ich brauche mich auch nicht auf jeden Offensivspieler gezielt vorzubereiten. Die meisten kennt man ja. Schalkes Guido Burgstaller ist zum Beispiel ein großer, kräftiger Stürmer, den man bereits bei der Ballannahme stören muss. Der darf auf keinen Fall im Strafraum zum Köpfen kommen. Franco di Santo ist wiederum ein ganz anderer Spielertyp.
Wer war Ihr härtester Gegenspieler?
Kober: Mein anstrengendster Gegenspieler war Toni Polster. Da wurde mir als Gegenspieler kalt, weil der sich nie bewegt hat. Und trotzdem stand er immer richtig und hat mit nur einer Aktion sein Tor gemacht.
Haben Sie gar kein schlechtes Gewissen, dass es Ihr Job war, das Schöne am Fußball bestmöglich zu zerstören?
Kober: Zu meiner Zeit gab es doch gar keinen so schönen Fußball. Diese ganzen Tanzmäuse mit achtfachen Übersteigern hatten wir früher nicht.
Papadopoulos: Und warum sollte man ein schlechtes Gewissen haben? Grätschen gehört doch zum Fußball dazu. Und ich verletze ja niemanden, ich bin kein unfairer Spieler.
Kober: In meiner ganzen Karriere bekam ich gerade mal eine Rote Karte. Sah wild aus, war an der Mittellinie. Ich wurde sechs Wochen gesperrt.
Papadopoulos: Sechs Wochen?!?
Kober: Ja, aber die waren über die Winterpause. Im Endeffekt musste ich nur ein Spiel pausieren (lacht).
Ihre Lieblingsgrätsche?
Kober: In Dortmund habe ich mal ein Ding mit einer Sensationsgrätsche von der Linie gekratzt. Der Ball sprang zu Frank Mill, und der hat den Ball über mich und über Richie Golz ins Tor gechippt. Das war bitter.
Papadopoulos: Meine Lieblingsgrätsche hatte auch kein Happy End. Mit Leverkusen haben wir in Barcelona gespielt. Neymar lief auf das Tor zu, und im letzten Moment bin ich mit einer Supergrätsche dazwischen. Am Ende haben wir in der 90. Minute das 1:2 kassiert.
Was ist Höwedes’ epische Grätsche gegen Oliver Giroud im EM-Halbfinale?
Papadopoulos: Ach, gegen Giroud kann man ein Laufduell schon mal gewinnen. Da gibt es doch bessere Grätschen!
Kober: Früher hat da keiner Hurra geschrien. Heute weiß man aber den Wert einer ehrlichen Grätsche zu schätzen.