Hamburg. Beim HSV steht der zuverlässige Profi selten im Rampenlicht. In Mainz muss Jung Papadopoulos ersetzen und die Abwehr organisieren.
Ist ja keine Frage: Wenn Markus Gisdol an diesem Sonnabendmorgen in der letzten Besprechung vor dem Bundesligaspiel bei Mainz 05 (15.30 Uhr/Sky und Liveticker bei abendblatt.de) den HSV-Profis seine Aufstellung verkündet, dann weiß Gideon Jung ohnehin, dass er dabei ist. Und nicht nur, weil Kyriakos Papadopoulos gesperrt ist. Sondern weil es immer so ist, seit weit über einem Jahr. „Es ist schon ein Unterschied, wenn du davon ausgehen kannst, dass du spielst, als wenn du vorher nicht so sicher bist“, sagt Jung. „Du bist von der Konzentration her weiter, als wenn du erst kurz vor dem Spiel erfährst, dass du in der Startformation stehst.“
Aber, wie gesagt, dieses Gefühl kennt der 23-Jährige kaum noch.
Seit Beginn der Saison 2016/17 gilt beim HSV die Regel: Wenn Jung fit ist, spielt er auch. Das macht 36 Spiele – nur einmal, beim Debüt von Gisdol auf der HSV-Bank am 1. Oktober 2016 bei Hertha BSC (0:2) – lief der Defensivmann nicht auf, obwohl er fit war. Nur Kapitän Gotoku Sakai hat in diesem Zeitraum im HSV-Kader mehr Spiele bestritten (38). „Echt?“, überlegt Jung. „Nicht schlecht...“ Und trotzdem: „Ich fühle mich eigentlich gar nicht als unumstrittener Stammspieler.“
So fühlt er wohl wirklich. Jung ist niemand, der nach außen die große Welle macht. Er wirkt ruhig, ernsthaft, durchaus bescheiden. Die Hände über dem Schoss zusammengefaltet, die Augen immer beim Gegenüber. „Für mich geht es weiter darum, mich jede Woche im Training neu zu beweisen“, sagt er im Gespräch mit dem Abendblatt, und man möchte das gern glauben: „Ich brauche kein großes Spotlight oder Ähnliches. Mir passt es perfekt, nicht so im Rampenlicht zu stehen.“
Jung durchlief kein Leistungszentrum
Als „bodenständig“ hat ihn sein ehemaliger Jugendtrainer Frank Stoffels beschrieben. Das ist ein Attribut, das in Hamburg eigentlich für den größten HSV-Spieler aller Zeiten reserviert ist. Beim SF Baumberg hat der Sohn ghanaischer Eltern aus Düsseldorf mit dem Fußballspielen begonnen, von der E- bis zur A-Jugend hat Jung dort südlich von Düsseldorf gekickt. Dort, wo er groß geworden ist. Dies ist seine Heimat. Er hält engen Kontakt zur Familie, auch nach über drei Jahren in Hamburg. „Ich fühle mich als Rheinländer“, erzählt er. Wann immer es möglich ist, fährt er in seiner Freizeit dahin, auch am vergangenen, spielfreien Wochenende war er dort. „Ich fühle mich wohl in Hamburg, aber im Kopf bin ich immer noch Düsseldorfer.“
Er hat kein Jugendleistungszentrum durchlaufen, keine Einsätze in einer DFB-Jugendmannschaft aufzuweisen. Er stand außerhalb des Systems. Chancenlos. Seiteneinsteiger schaffen es nicht mehr in das DFB-Umfeld. Eigentlich. Doch im Sommer 2017 wurde Gideon Jung mit den deutschen U-21-Junioren Europameister. An der Seite von Spielern wie Leon Goretzka, Maximilian Arnold oder Serge Gnabry, die bereits Einsätze in der A-Mannschaft aufzuweisen haben. Er, der unbekannte Gideon vom Dauerabstiegskandidaten HSV. „Das Turnier hat mich vom Selbstvertrauen her deutlich weitergebracht. Gerade vor dieser aktuellen Saison“, sagt er und schaut sehr ernst. „Ich habe meine eigenen Erwartungen weiter angehoben.“
Jugendtrainer hat es Jung nicht zugetraut
Schritt für Schritt, weiter, immer weiter, besser, immer besser. „Diese Entwicklung haben wir ihm nicht zugetraut“, sagt Stoffels. Zwei Jahre, von 2012 bis 2014, spielte Jung bei Rot-Weiß Oberhausen in der A-Junioren-Bundesliga und der Regionalliga West, dann rief der HSV an. Nach einer Verlängerung 2016 läuft sein Vertrag nun bis 2020. „Es gibt viele Wege, es in die Bundesliga zu schaffen“, ist der HSV-Verteidiger überzeugt. „Wenn man dran bleibt, kann man es schaffen. Da ist es egal, wer man war oder wo man vorher gespielt hat.“
Er hat es geschafft. Spielt seine vierte Saison beim HSV. Auch das kann Gideon Jung kaum glauben. Nur Dennis Diekmeier ist aus dem aktuellen Kader länger dabei. „Ach, echt?“ Und trotzdem, sagt er, fühlt er sich noch nicht als komplett angekommener Bundesligaspieler. Er sei auf dem Weg dahin. „Ich würde sagen, es ist jetzt ein Zwischending.“ Das sieht Trainer Markus Gisdol völlig anders. Er lobt den Abwehrspieler bei fast jeder Gelegenheit. „Extrem wertvoll“ sei Jung für den HSV, „zuverlässig, zweikampfstark, vielseitig.“ Weil er ja nicht nur in der Innenverteidigung spielen kann, sondern auch im defensiven Mittelfeld, als „Sechser“. „Das reizt mich noch mehr, man hat dort freiere Möglichkeiten beim Laufen, im Spielablauf und in anderen Spielsituationen.“
Seine eigene Entwicklung hat der 1,89-Meter-Schlaks ebenso reflektiert. Von der Unsicherheit als Youngster beim Training mit den Profis bis jetzt. „Welten“ lägen dazwischen. „Anfangs war ich immer etwas wackelig, wollte bloß keinen Fehler machen“, erinnert er sich. „Jetzt wirft es mich nicht mehr aus der Bahn. Fehler im Training helfen mir im Spiel weiter. Gerade fußballerisch habe ich mich verbessert. Mein Spiel ist selbstbewusster geworden.“
Bilder vom HSV-Training:
Elf Profis, elf Youngster: Eindrücke vom HSV-Trainingsspiel
Das introvertierte Talent hat zwei Gesichter
Diese Präsenz auf dem Platz ist inzwischen deutlich zu sehen. Er ist stark im Kopfball, hart im Zweikampf, geht den Bällen entgegen. Aufbrausend und hitzig ist er zudem. Voll im Wettkampfmodus, der nur wenig mit dem stillen Jungen jetzt hier beim Kabinengespräch im Volksparkstadion zu tun hat. „Das kennt jeder Fußballer, dass man auf dem Platz auch mal eine Diskussion hat, die etwas lauter wird. Das reizt mich auch, das brauche ich im Spiel. Auf dem Platz bin ich ein anderer Typ. Da merke ich schon, dass es zwei Gideons gibt.“
In Mainz ist Papadopoulos nicht dabei, umso mehr wird es in der Innenverteidigung auf Jung ankommen. Sein erfahrener Nebenmann Mergim Mavraj hat in den vergangenen Wochen zudem mit Formproblemen zu kämpfen gehabt. Schwingt Jung sich also an diesem Nachmittag zum Abwehrchef auf? Aber nein, das würde der ruhige Gideon außerhalb des Stadions nie behaupten: „Nein, es ist ein gemeinsamer Austausch. Es würde nicht klappen, wenn nur einer das Sagen hätte.“
Die Anerkennung, die kommt nicht durch die große Klappe, die kommt durch die Leistung. Auch wenn Gideon Jung immer noch unter dem Radar der aufgeregten Fußball-Öffentlichkeit zu fliegen scheint. 2,5 Millionen Euro notiert die viel zitierte Internetseite transfermarkt.de derzeit als Marktwert für ihn. Für einen etablierten Verteidiger in der Bundesliga, der praktisch jedes Spiel macht. Das ist ein Witz im Vergleich mit manch anderem Spieler. Jung ist das jedoch egal. „Ich versuche, meine Leistung zu bringen. Ob dann da zwei Millionen steht, fünf oder sechs, das spielt keine Rolle, das entwickelt sich dann.“ Wird es, wie immer im Profileben des Gideon Jung. Ist ja keine Frage.