Hamburg/Gelsenkirchen. Das nicht gegebene 2:1 in der Schlusssekunde gegen den HSV erregt die Gemüter. Assistent hat Erinnerungen an Hamburg und Schalke.
Es lief die vierte Minute der Nachspielzeit, als dem Wahnsinn in der Veltins-Arena die Krone aufgesetzt werden sollte. Schalkes Johannes Geis zirkelt einen Eckball von rechts in den Fünfmeterraum, in dem Sead Kolasinac am höchsten steigt und den Ball per Kopf am machtlosen HSV-Torhüter Christian Mathenia in die Maschen wuchtet.
2:1 für Schalke – dachten alle – außer Thorsten Schiffner. Der Assistent hatte, noch während Geis' Flanke in der Luft war, seine Fahne gehoben und damit Schiedsrichter Markus Schmidt eine Regelwidrigkeit signalisiert. Während sich auf den Schalker Rängen Jubel und im HSV-Block Entsetzen Bahn brachen, registrierten zwei Hamburger Protagonisten als erste ihr Glück.
Gregoritsch rüttelt Mathenia wach
Am Seitenrand machte HSV-Trainer Markus Gisdol umgehend den vierten Assistenten auf die Fahne des Linienrichters aufmerksam. Auf dem Platz realisierte wiederum Michael Gregoritsch als Erster die Negierung des Gegentreffers. Und so rüttelte der Österreicher seinen Schlussmann Mathenia wach, der längst sein Gesicht resignierend im Rasen vergraben hatte. Nicht geahndet wurde hingegen die Abseitsstellung von zwei Schalker Spielern, die sich beim Kopfball von Kolasinac in der Ecke, wo der Ball hinflog, positioniert hatten.
Der HSV durfte also den womöglich goldenen Punkt festhalten, den Pierre-Michel Lasogga ebenfalls erst in der Nachspielzeit mit seinem Saison-Tordebüt beschert hatte. Durch das Remis hat der HSV zumindest den direkten Abstieg abgewendet und gleichzeitig die Chance auf den direkten Klassenerhalt mit einem Sieg am letzten Spieltag gegen den VfL Wolfsburg gewahrt.
Kinhöfer weicht in der Analyse aus
Doch die Frage nach der Rechtmäßigkeit des späten Punktgewinns beschäftigt auch einen Tag nach dem Krimi von Gelsenkirchen Fans und Funktionelle gleichermaßen. Die "Bild am Sonntag" zog für die Bewertung der Eckball-Szene sogar ihren Schiedsrichter-Experten Thorsten Kinhöfer zu Rate.
Und der ehemalige Bundesliga-Referee kommt dabei zu keinem ganz eindeutigen Schluss, verweist vielmehr auf die generellen Qualitäten des Linienrichters. "Auch wenn die Fernsehbilder es nicht definitiv belegen können: Schiffner ist einer unserer besten Assistenten, er steht optimal, genau auf der Linie. Und er hebt die Fahne, während der Ball im Flug ist."
Todt konnte es nicht genau sehen
Die Assistenten seien "sehr dafür sensibilisiert, dass der Ball bei einer Ecke von rechts von einem Rechtsfuß ins Aus fliegen kann", schreibt Kinhöfer. Schalkes Geis sei bekannt dafür, seine Standards mit viel Effet auszuführen. Im Stadion und an den Bildschirmen hätten wohl allerdings die wenigstens Einspruch erhoben, hätte das Tor gezählt.
"Ich konnte es nicht sehen", sagte denn auch HSV-Sportchef Jens Todt unmittelbar nach dem Spiel am "Sky"-Mikrofon. "Aber es ist mir auch egal. Ich bin froh, dass der Schiri es so entschieden hat." Als der Bezahlsender die Fernsehbilder anbot, legte sich Todt dagegen umgehend fest: "Für mich ist er Aus."
Brisantes Video zeigt Geis' Eckball
Eine andere Theorie legt allerdings ein Video der Szene nahe, das ein Stadionbesucher auf Höhe der Torauslinie aufnahm und bei Twitter einstellte. Die Filmsequenz lässt keine Linien-Überschreitung des Balls erahnen. Auffällig dabei: Der Urheber des Videos ist eher parallel zur Auslinie positioniert als Assistent Schiffner, der sich zwei Schritte weiter links aufgestellt hatte. Ebenfalls zu sehen: Schiffner zögert einen kurzen Moment, ehe er die Ungültigkeit der Ecke anzeigt.
Calmund will den "Firlefanz" lassen
Stefan Effenberg ist sich dagegen sicher, dass der Unparteiische am Rand richtig entschied. "Natürlich hat er das gesehen, deswegen hebt er auch sofort die Fahne", sagte der "Sky"-Experte. "Er hat nicht gezweifelt, also müssen wir davon ausgehen, dass der Ball wirklich hinter der Linie war."
Reiner Calmund bescheinigt Schiffner für seine Anzeige Mut, plädiert aber für ein schnelles Ende der Debatte. "Lassen wir den Firlefanz", sagte der ehemalige Manager und Vertraute des HSV-Mäzens Klaus-Michael Kühne im "Doppelpass" von Sport1, der sogar eine 3D-Analyse der Szene anstellte.
Diese liefere jedoch ebensowenig Beweise wie die regulären TV-Bilder, meint die "Interessengemeinschaft Schiedsrichter". "Es kommt hier auf den Blickwinkel an. Der Assistent stand gut und wird es richtig erkannt haben", schreibt die IG auf ihrer Facebookseite. Mit dem Videobeweis erübrigten sich ab der nächsten Saison solche Diskussionen.
Krug: Videobeweis hätte nicht geholfen
DFL-Schiedsrichter-Manager Hellmut Krug erstickt diese Hoffnung wiederum im Keim. "Auf Höhe der Torlinien ist nur die Kamera des Hawkeye-Systems angebracht, die überwacht, ob der Ball im Tor ist oder nicht. Und die ist so fokussiert, dass sie nur den Bereich im Strafraum erfasst", sagte Krug der "Welt".
In einem Fall wie dem aus dem Spiel Schalke gegen Hamburg müsse man dem Schiedsrichterassistenten an der Linie vertrauen, so Krug: "Darauf zu achten, ob die Flugbahn eines Eckballs die Torauslinie überschreitet – das sind Basics für die Assistenten. Und Thorsten Schiffner, der in Schalke an der Linie stand, ist einer unserer erfahrensten Assistenten. Ich habe keinen Zweifel, dass er mit seiner Entscheidung richtig lag."
Die Bilder des Spiels:
Schiffner war das Bierbecher-Opfer
So bleibt die Erkenntnis, im Schalker Eckball-Gate Thorsten Schiffner vertrauen zu müssen. Die Konstellation Schiffner, Schalke und Hamburg hatte übrigens schon einmal für Schlagzeilen gesorgt. Vor sechs Jahren stand der Konstanzer am Millerntor im Mittelpunkt, als er in der 89. Minute Opfer eines Bierbecherwerfers wurde.
Gast des FC St. Pauli damals: Der FC Schalke 04. Die Partie wurde beim Stand von 2:0 für die Gäste abgebrochen und anschließend für Schalke gewertet. Der mutmaßliche Täter wurde in der Folge zunächst zu einer Geldstrafe verurteilt, später nach erfolgreichem Einspruch jedoch wieder freigesprochen.
Schiffner steckte den sprichwörtlichen Nackenschlag weg und schwang sich vornehmlich im Team von Fifa-Schiedsrichter Felix Brych zum international angesehenen Unparteiischen auf.
Ingolstädter leiden im Wechselbad
Torsten Kinhöfer kommt in seiner Bams-Kolumne zu folgendem Schluss: "Man sieht bei so einer Szene, dass die Schiedsrichter an den letzten Spieltagen enorm aufmerksam sein müssen. Denn auch scheinbar unwichtige Szenen können dramatische Auswirkungen haben."
Diese bekommt durch den Eckball-Pfiff nunmehr der FC Ingolstadt zu spüren, der durch das Hamburger Unentschieden vorzeitig als Absteiger feststeht. Vorher durchlebten die "Schanzer" nach ihrem Remis beim SC Freiburg rund 500 Kilometer weiter südlich ebenfalls ein dramatisches Wechselbad.
"Wir wussten, dass wir auch auf den HSV gucken mussten", sagte Ingolstadts Trainer Maik Walpurgis. Was bei seinem Kapitän Marvin Matip zu großem Leid führte: "Nach dem Spiel hieß es erst 1:1, dann hieß es auf einmal wieder 2:1 für Schalke. Da waren sehr, sehr viele Fehlinformationen, das war ganz, ganz bitter."