Hamburg. Lewis Holtby weiß, wie man bei Bayern München gewinnen kann. Vor dem Spiel spricht er über Wettquoten, die Dusel-Theorie und mehr.

Der Raum ganz hinten in den Katakomben des Volksparkstadions könnte mal einen neuen Anstrich gebrauchen. Aus der Decke hängen ein paar Kabel, und auch das Mobiliar ist nicht mehr das neueste. Lewis Holtby stört das alles herzlich wenig. Der HSV-Profi eilt durch die Tür, setzt sich auf das weiße Ledersofa und sagt: „Dann legen wir mal los.“

Hamburger Abendblatt: Herr Holtby, wir wissen ja, dass Sie nicht wetten dürfen. Schauen Sie trotzdem manchmal auf die Bundesliga-Wettquoten?

Lewis Holtby: Ich bin zwar Halb-Engländer, aber vom Wetten habe ich trotzdem keine Ahnung.

Vor dem nächsten Spiel in München lohnt ein Blick auf die Quoten. Wer auf einen HSV-Sieg gegen die Bayern wettet, der bekommt die Quote von 15:1, also im Erfolgsfall einen Gewinn von 150 Euro bei zehn Euro Einsatz. Beim letzten HSV-Spiel in München gab es sogar eine rekordverdächtige Quote von 40:1. Da war ein HSV-Sieg für manch einen Wettanbieter in etwa so wahrscheinlich wie die Möglichkeit, einen lebendigen Elvis Presley zu treffen.

Als wir noch zwei Punkte aus zehn Spielen hatten, hätte man wohl die Quote 5000:1 aufstellen können. Das ist nur ein paar Monate her, aber seitdem ist eben doch viel passiert. Wir haben an vielen Schwachstellen sehr gut gearbeitet und sind jetzt wieder wettbewerbsfähig. Wir zerbrechen nicht gleich beim ersten Misserfolg. Wir sind auch im Kopf viel gefestigter als noch vor einigen Monaten. Gegen die Bayern sind wir natürlich der Außenseiter, aber wir sind nicht völlig chancenlos. Deswegen gibt es auch jetzt die Quote 15:1 und nicht mehr 40:1. Wobei ich diese ganzen Wettquoten nicht zu ernst nehmen würde. Wichtig ist nur, dass wir am Sonnabend gegen Bayern spielen. Und jeder sollte sich auf dieses Spiel freuen.

Die letzten sieben Spiele in München hat der HSV mit einem Torverhältnis von 3:37 allesamt verloren. Freuen Sie sich wirklich auf das Spiel in München?

Selbstverständlich freue ich mich. Vor der Partie gegen Leipzig war die Wettquote wahrscheinlich auch im gefühlten Bereich von 5000:1 gegen uns. Aber darum geht es doch gar nicht. Als Fußballer habe ich die tolle Möglichkeit, mich am kommenden Wochenende mit einigen der besten Spieler der Welt zu messen. Darauf muss man sich freuen.

Ihr Gegenspieler ist wohl Arturo Vidal …

…, der zu den Besten der Besten gehört. Das ist überragend, gegen so einen Spieler spielen zu dürfen. Mehr noch: gegen so einen Spieler möglicherweise zu gewinnen. Wenn man mit der Einstellung in so ein Spiel geht, dass man von der Wahrscheinlichkeit her verlieren wird, dann hat man schon verloren und bekommt fünf oder sechs Stück.

Fünf Stück hat der HSV beim letzten München-Besuch kassiert. Als einer der ganz wenigen im Kader wissen Sie aber, wie sich ein Sieg in der Allianz Arena anfühlt.

Das stimmt. Das muss 2010 mit Mainz gewesen sein. 2:1 haben wir da gewonnen. Ein Hammerspiel. Das 1:0 lege ich nach einer Viertelstunde für Sami ­Allagui auf, dann kassieren wir kurz vor dem Seitenwechsel durch ein echt blödes Eigentor das 1:1 …

… psychologisch ungünstiger Zeitpunkt …

Psychologisch dramatischer Zeitpunkt. Eigentlich ist so etwas der Genickbruch. War es aber nicht. Ich musste leider verletzt raus, für mich kam dann André Schürrle rein. Und der legt dann auch noch kurz vor Schluss das 2:1 für Adam Szalai auf. Einfach genial.

Hilft es, vor einem Spiel gegen die Bayern sich so ein Positiverlebnis noch einmal in Erinnerung zu rufen?

Selbstverständlich. Man muss solche Erinnerungen visualisieren. Fußball wird im Kopf entschieden – auch ein Spiel gegen die Bayern. Wenn ich jetzt also anfange und darüber nachdenke, dass wir da in der Vergangenheit immer eine Packung bekommen haben, dann bekommen wir dieses Mal auch wieder eine Packung. Wenn ich aber mental durchspiele, wie ich da schon einmal gewonnen habe und beim Jubeln zur Eckfahne gelaufen bin, dann laufe ich am Sonnabend vielleicht wieder beim Jubeln zur Eckfahne.

Sie setzen auf mentales Training, oder?

Mentales Training gehört genauso dazu wie Taktik- oder Techniktraining. So bleibt man bis zum Ende im Spiel wach.

Das Ende des Spiels kann gegen die Bayern auch mal 96 Minuten dauern. Was halten Sie von der Bayern-Dusel-Theorie?

Gar nichts. Es ist ein Qualitätsmerkmal der Bayern, dass sie oft so spät erst die Spiele entscheiden. Das hat mit Glück oder Dusel nichts zu tun. Die Münchner erzwingen dieses Glück – das hat einzig und alleine etwas mit Qualität zu tun.

Diese Qualität haben Sie im Hinspiel zu spüren bekommen.

Da waren wir 88 Minuten lang richtig gut. Doch 88 Minuten reichen nicht. Plötzlich zwirbelt Thiago den Ball volley über den Platz, Ribéry zieht an, in der Mitte steht Kimmich. Und bumm. 0:1.

Pech?

Sehr bitter, aber bestimmt kein Pech. Auch für die Berliner war das 1:1 am Wochenende in der 96. Minute bitter. Aber am Ende ist es dann eben doch verdient. Das muss man neidlos anerkennen.

Kann man sich auf so etwas vorbereiten?

Man kann sich auf alles vorbereiten. Natürlich versuchen auch wir die wenigen Schwachstellen der Bayern aufzudecken, versuchen dagegenzuhalten. Als Mannschaft, aber auch als Einzelner.

Was meinen Sie?

Ich kann mich natürlich auch individuell mit unseren Analysten zusammensetzen und überlegen, was die Stärken und Schwächen meiner Gegenspieler sind, wie ich mich am besten in meinem Raum bewegen sollte und wo man vielleicht sogar die Bayern überraschen kann. Beim 2:1-Sieg mit Mainz 2010 hatte uns Thomas Tuchel einen ganz genauen Matchplan mit an die Hand gegeben. So ein Plan geht nicht immer auf, aber man sollte es zumindest versuchen. Und das werden wir auch an diesem Wochenende.

Sie haben bereits elfmal gegen die Bayern gespielt. Ist es trotzdem noch etwas Besonderes, wenn man mit dem Mannschaftsbus an der Allianz Arena vorfährt?

Unbedingt. Trotz all der Klatschen spürt man, dass dieser Nord-Süd-Klassiker etwas Besonderes ist. Es werden bestimmt wieder knapp 10.000 Hamburger dabei sein. Und als Spieler weiß man auch, dass diese Partie auf der ganzen Welt zu sehen sein wird. Bayern-Spiele werden doch immer übertragen. All das spürt man, wenn man in die Tiefgarage der Allianz Arena einbiegt.

Letzte Frage: Dürfen es die HSV-Fans wagen, ein paar Euro auf einen Auswärtssieg zu wetten?

Sie dürfen alles. Doch ich würde nie jemanden zum Wetten raten. Aber sagen wir mal so: Wenn wir alle an unsere Grenzen gehen und alles rausholen, dann ist die Wahrscheinlichkeit einer Überraschung in München definitiv größer, als einen lebendigen Elvis Presley zu treffen.