Bremen/Hamburg. Nach dem Sieg in Bremen steht der HSV mit 21 Punkten auf Platz sieben. Wie stark ist die Mannschaft in dieser Saison wirklich?
Im Gefühlszustand der Euphorie kann es ja schnell mal passieren, dass Menschen ein wenig den Sinn für die Realität verlieren. So gesehen war es wenig verwunderlich, dass die Fans des HSV am Sonnabend im Gefühlsrausch die ersten Gesänge vom Europapokal anstimmten. Nicolai Müller hatte soeben das entscheidende Tor zum 3:1 bei Werder Bremen erzielt und damit den ersten Hamburger Derbysieg an der Weser seit acht Jahren perfekt gemacht.
Was man den HSV-Anhängern zugutehalten muss: Ganz so fern der Realität war es gar nicht, was sie da im Gästeblock auf der Westseite des Weserstadions sangen. Durch den Auswärtssieg in Bremen machte der HSV in der Tabelle zunächst einen Sprung auf den sechsten Platz, nach den Sonntagsspielen ist es nun Rang sieben – punktgleich mit dem Sechsten aus Leverkusen. „Die Tabelle lügt nicht“, sagte entsprechend auch der Mann des Tages, Ivo Ilicevic. Der Kroate hatte das Derby bereits in der dritten Minute mit einem Kunstschuss in den Winkel eingeleitet. „Das war mein bislang schönstes Tor für den HSV“, sagte Ilicevic, der in der zweiten Halbzeit mit einer perfekt getimten Vorlage auch noch das 3:1 durch Müller eingeleitet hatte (68.).
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Zu weiteren Euphoriereflexen ließ sich Ilicevic aber nicht mehr hinreißen. Vielleicht lag es daran, dass der Torschütze durch den Gang zur Dopingprobe nicht nur den Jubeltanz in der Kabine, sondern auch die gemeinsame Busfahrt Richtung Hamburg verpasste. Das Spiel war bereits seit drei Stunden beendet, das Licht im Stadion gerade ausgegangen, als Ilicevic schließlich sein letztes Tageswerk vollbracht hatte. „Es lief nicht so, obwohl ich echt viel Wasser getrunken habe“, sagte er lächelnd.
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In seiner anschließenden Analyse überzeugte der 29-Jährige aber mit dem gleichen Blick für die Realität, den zuvor schon seine Mitspieler offenbart hatten. „Wir werden jetzt nicht von Europa träumen“, sagte Lewis Holtby, der im defensiven Mittelfeld seine starke Form der vergangenen Wochen bestätigte. „Wir bleiben auf dem Boden“, sagte Kapitän Johan Djourou, der die Abwehr des HSV erneut souverän dirigierte. Und das Gespräch zwischen Nicolai Müller und einem Reporter klang so: „Haben sie schon auf die Tabelle geguckt?“ „Nein.“ „Interessiert es Sie, dass Sie Sechster sind?“ „Nö, mich interessiert, dass wir 21 Punkte haben.“ „Aber Platz sechs ist doch schön, oder?“ „Schön, mehr aber auch nicht.“
Nicolai Müller ist ein gutes Beispiel für die neue Stärke des HSV. Es wird nicht mehr viel geredet, dafür umso mehr auf dem Platz gearbeitet. In Bremen nutzte der HSV von Beginn an die Verunsicherung des Gegners aus. „Wir wollten nach dem Sieg gegen Dortmund unbedingt nachlegen und waren von der ersten Sekunde an unheimlich aggressiv“, sagte Bruno Labbadia nach dem Spiel. Der Trainer hatte eine Taktik entwickelt, mit der seine Mannschaft vor allem in der ersten Halbzeit immer wieder zu großen Chancen kam. Nach Balleroberung schwärmten die Offensivspieler des HSV mit höchstem Tempo aus. Oft reichte eine direkte Weiterleitung, um die Abwehr der Bremer komplett auszuhebeln.
„Wir wussten, dass Werders Innenverteidiger sehr hoch stehen und riesige Räume zulassen. Das haben wir sehr gut genutzt“, sagte Müller. Schon Michael Gregoritsch, den Labbadia wieder als hängende Spitze aufstellte, hätte nach einem dieser Blitzangriffe früh auf 2:0 stellen können. Besser machte es Müller, als er vor dem 3:1 den Pass von Ilicevic in Höchstgeschwindigkeit mitnahm, den Weg von Bremens Philipp Bargfrede im richtigen Moment kreuzte und allein vor Werders Torwart Felix Wiedwald die Nerven behielt. „Wir haben heute zum richtigen Zeitpunkt die Tore gemacht“, sagte der Torschütze.
Recht hatte er, denn nach der Halbzeit drohte der HSV seine 2:0-Führung zu verspielen. Der Anschlusstreffer durch Anthony Ujah (62.) war die logische Folge der immer stärker werdenden Bremer. Doch genau in Werders Drangphase setzte der HSV mit dem Konter zum 3:1 den „Gnadenstoß“, wie es Labbadia formulierte. Die Gegenwehr der Gastgeber war gebrochen, der HSV fuhr erstmals in dieser Saison zwei Siege in Folge ein. Wie schon gegen Dortmund hatten die Hamburger sich erfolgreich zum Sieg gekontert. „Wir haben im Moment richtig gute Beine“, sagte Labbadia, „dazu spielen wir noch richtig guten Fußball.“
Aber wie gut ist dieser HSV wirklich? Fakt ist, dass Labbadia viele Spieler, die im vergangenen Jahr weit unter ihren Möglichkeiten geblieben sind, wieder besser gemacht hat. Das zeigten Holtby, Müller, Ilicevic oder Djourou auch in Bremen. Fakt ist zudem, dass Labbadia wieder eine Mannschaft geformt hat, in der miteinander gearbeitet wird. „Unsere Philosophie ist das Team“, sagte Djourou. „Wir sind eine Truppe. Man merkt den Teamspirit“, ergänzte Holtby. Der neue Chef im Hamburger Mittelfeld geht auf dem Platz voran und versucht, auch verbal die richtigen Akzente zu setzen. Auch wenn ihm dafür nicht immer die richtigen Worte einfallen. „Demut kommt vor dem freien Fall“, bemühte Holtby nach dem Spiel ein Sprichwort, das er leicht durcheinanderbrachte.
Inhaltlich passte der Satz aber auch so zu dem, was Holtby ausdrücken wollte. Hochmut steht beim HSV auf dem Index. Stattdessen übt man sich in Demut. Gepaart mit einem gesunden Selbstvertrauen. „Wir können viel erreichen, aber wir müssen viel dafür tun“, sagte Kapitän Djourou.
Ob sich der HSV nur wenige Monate nach dem Beinahe-Abstieg tatsächlich in den oberen Tabellenregionen festsetzen kann, dürfte sich insbesondere in den letzten beiden Heimspielen vor der Winterpause gegen Mainz und Augsburg zeigen. In den vergangenen Jahren enttäuschte die Mannschaft in diesen vermeintlich leichteren Aufgaben im Volkspark zuverlässig.
Zuverlässig verlor der HSV in diesen Jahren auch in Bremen. Nun soll alles anders werden. Was zählt, sei die Arbeit, sagt Ilicevic. „Und dann schauen wir mal, wo wir am Ende stehen.“