Hamburg. Am Sonnabend kommt Leverkusen, das die stärksten HSV-Talente der letzten 15 Jahre gekauft hat. Die Geschichte einer Rivalität.
Viele Jahre lang waren die Fronten rund um den HSV für jedermann geklärt. Als Anhänger der Rothosen liebt man zunächst einmal bedingungslos den HSV. Natürlich. Regel Nummer zwei sieht vor, dass man eine gesunde Abneigung gegenüber dem FC St. Pauli verspürt. Auch die Gegnerschaft mit Werder Bremen ist selbstverständlich – genauso wie der fromme Wunsch, den Bayern irgendwann doch mal die Lederhosen auszuziehen. So weit, so gut. Doch nun wird es kompliziert. Denn seit Kurzem gibt es einen weiteren Club, den HSV-Fans in ihr Portfolio von Erzfeinden aufgenommen haben: Bayer Leverkusen.
„Hamburg gegen Leverkusen – da ist richtig Zündstoff drin. Dat ist definitiv kein normales Spiel“, sagt Reiner Calmund, so eine Art fleischgewordene Bayer-Seele und Leverkusen-Legende in Personalunion. Wer mit Calmund zum Gespräch verabredet ist, der braucht vor allem eines: Geduld. Der frühere Bayer-Manager kann ohne Punkt und Komma reden – und tut es auch. „Dat muss wohl alles mit dem Sonny angefangen haben“, sagt Calmund, und erklärt „dat alles“ ohne Luft zu holen: „Der Son, der Sam, der Öztunali, der Calhanoglu und der Tah. Prima Jungs, fast alle, dat alles muss den Hamburgern weh getan haben.“
Offiziell zugeben will das kein Hamburger, man muss Stärke demonstrieren. Aber natürlich haben die Transfers trotz aller Bayer-Millionen wehgetan. Sidney Sam suchte sich bereits 2010 eine neue Heimat unter dem Bayer-Kreuz, was beim HSV zunächst niemanden so wirklich störte. Nicht einmal, als Sam später Nationalspieler wurde. Das änderte sich erst, als dem einstigen HSV-Nachwuchsspieler vor zwei Jahren Heung-Min Son folgte. Zehn Millionen Euro Schmerzensgeld erhielten die Hamburger, plus einen Nachschlag von drei Millionen Euro, weil der Südkoreaner im Sommer für 30 Millionen Euro nach Tottenham wechselte. „Den Leverkusenern war damals sofort klar, was der Sonny für ein Rohdiamant ist“, sagt Calmund.
Diese Spieler brachten dem HSV das meiste Geld
„Tah wird Nationalspieler“
Gleiches gilt für Uwe Seelers Enkel Levin Öztunali. Der U21-Nationalspieler wechselte im selben Sommer wie Son nach Leverkusen, ablösefrei. Derzeit ist er an Werder, ausgerechnet Werder, ausgeliehen. Doch wirklich übel nahmen die Hamburger Bayer den Wechsel Hakan Calhanoglus im vergangenen Jahr. 14,5 Millionen Euro erhielt der HSV, jede Menge Theater inklusive. „Der liebe Gott und Calhanoglu hatten den HSV vorm Abstieg bewahrt – und dann gab es so einen Ärger, obwohl man dem Jungen einen Wechsel zu einem Topclub mündlich zugesichert hatte“, sagt Calmund. „Und dat sage ich nicht, weil ich in Bayer-Unterwäsche schlafe. Dat ist so.“
Zu Calmunds Unterwäsche ist möglicherweise schon zu viel gesagt, zu Calhanoglus umstrittenen Wechsel ist definitiv alles gesagt worden. Im letzten Heimspiel des HSV gegen Bayer entlud sich Volkes Zorn in bis dahin ungeahnter Lautstärke. „Alle auf die zehn“, gehörte mit dem obligatorischen Pfeifkonzert noch zu den freundlicheren Aufforderungen von der Nordtribüne. Und auch auf dem Feld ging es drunter und drüber. 50 Fouls und neun Gelbe Karten wies die Statistik am Ende auf. „Das war mehr Treibjagd als Fußball“, schimpfte nach dem Gemetzel Bayer-Trainer Roger Schmidt.
Leverkusen verlor 0:1 – revanchierte sich aber im Sommer auf altbekannte Art und Weise. Denn nach Son, Öztunali und Calhanoglu angelte sich der Werksclub vom Rhein mit Jonathan Tah auch das vierte Hamburger Toptalent innerhalb von nur zwei Jahren. Das angebliche Schmerzensgeld diesmal: acht Millionen Euro, plus weitere zwei Millionen Euro erfolgsabhängig. „Der Rudi sagte mir im Vieraugengespräch, dass der Jonathan der kommende Innenverteidiger der Nationalmannschaft sein wird“, sagt Calmund, „dat können Sie ruhig so aufschreiben.“
„HSV gegen Bayer darf man nicht verpassen“
Was der Rudi dem Calli vielleicht nicht gesagt hat: auch der Tah-Wechsel nach Leverkusen hatte aus Hamburger Sicht Geschmäckle. So hatte sich Trainer Bruno Labbadia fest vorgenommen, den 19 Jahre alten Abwehrkoloss zu einem Eckpfeiler seiner Mannschaft zu machen, als dieser ihm im Vieraugengespräch nach der Saison unmissverständlich klar machte, dass er auf keinen Fall zurück nach Hamburg wolle. „Als Jonathan an Fortuna Düsseldorf verliehen war, hat Bayer sich regelmäßig bei ihm erkundigt, hat sich gekümmert. Das hat er wohl vom HSV vermisst“, sagt Mete Öztunali, der beide Clubs wie kein Zweiter kennt.
Levin Öztunalis Vater arbeitete zunächst im Scouting des HSV, dann im Scouting von Leverkusen. Seit diesem Jahr ist der Schwiegersohn von Uwe Seeler für die Talentsichtung von der Hamburger Agentur Sports United verantwortlich. „Leverkusen macht Personalpolitik mit Weitsicht. Genau das fehlte dem HSV in der Vergangenheit“, sagt Öztunali, und gibt ein Beispiel. „Auch Julian Green ist ein Riesentalent, das beim HSV aber überhaupt nicht zum Zuge kam. Das hat Gründe.“
Dabei ist der Weg von Hamburg nach Leverkusen keine Einbahnstraße. Dass es auch in die umgekehrte Richtung gehen kann, zeigten Labbadia, Torhüter René Adler und Innenverteidiger Emir Spahic, die es vom Rhein an die Elbe zog. Der entscheidende Unterschied: Während der HSV keines ihrer Talente ziehen lassen wollte, wollte Bayer keinen aus dem Trio halten.
„Man muss schon sagen, dass Bayer mit allen Personalentscheidungen richtig lag“, sagt Calmund, der bei der Neuauflage des Duells der ziemlich besten Feinde am Sonnabend dabei ist. „So ein Spiel muss man sehen“, sagt er, „dat darf man nicht verpassen.“
Der HSV-Kader in der Saison 2015/16