Wien/Hamburg. Der frühere HSV-Profi über Kritik an der Fehlentwicklungen im Fußball und fordert ein Umdenken beim Umgang mit Hamburger Talenten.

In Österreich war Paul Scharner eine große Nummer. 40 Länderspiele, Meister und Pokalsieger mit Austria Wien, Pokalsieger in England mit Wigan und in Norwegen mit Bergen. Beim HSV kam er nur auf vier Einsätze. Nun sorgt der 35-Jährige in einem vom früheren „Sportbild“-Reporter Lars Dobbertin geschriebenen Buch für Wirbel, das am 15. August im Delius-Klasing-Verlag erscheint: „Position Querdenker. Wie viel Charakter verträgt eine Fußballkarriere?“

Hamburger Abendblatt: Rudi Völler hat Marcell Jansen attackiert, weil der seine Karriere beendet hat. Sie haben 2013 mit 33 aufgehört. Bereuen Sie das heute?

Paul Scharner: Mich reizt der Profifußball nicht mehr, weil es nicht mehr um die Sache geht. Und ich mich als Persönlichkeit weiter- beziehungsweise wegentwickelt habe. Außerdem geht es mittlerweile um ganz was anderes!

Und um was?

Scharner: Vermarkten, transferieren und Geld verdienen. Fußball ist zur Trendsportart mutiert. Wenn einer meint, taktisch müsse auf Ballhalten gespielt werden, machen das alle nach.

Im Buch kritisieren Sie auch die Spielergeneration als luxus- und geldgetrieben.

Scharner: Schauen Sie nur nach England, wo das extrem ausgeschlachtet wird. Dort zeigt man in den Medien die fünf großen Autos von Wayne Rooney, so etwas wird dann den Jugendlichen als Vorbild vermittelt. Das ist natürlich nicht förderlich. Oder denken Sie an die Jugendakademien, wo ein Einheitsbrei produziert wird und keine eigene Meinung mehr erlaubt ist.

Der mündige Sportler ist nicht mehr gewünscht in Ihren Augen?

Scharner: Ich kenne Geschichten aus Österreich, wo Journalisten ihre Fragen an Clubs schickten und die Antworten aus der Presseabteilung kamen.

Sie beklagen negative Entwicklungen. Was muss sich denn ändern?

Scharner: In einer so kapitalgetriebenen Gesellschaft ist es schwer, etwas zu verändern. Wenn ich noch einmal nach England schaue: Dort ähnelt die Atmosphäre in den Stadien inzwischen eher einem Theaterbesuch, nachdem man früher rigoros in den Fansektoren aufgeräumt hat. Und keine einheimischen Identifikationsfiguren mehr spielen. Man klatscht mal und verhält sich ansonsten ruhig.

Sie meinen, das Interesse am Fußball könnte perspektivisch leiden?

Scharner: Natürlich, weil es nichts mehr zum Identifizieren gibt. Der Spieler X geht dorthin, wo er am meisten Geld verdient. Alles andere ist egal. Das kann über lange Sicht nicht funktionieren.

Dem HSV, Ihrem früheren Club, haben Sie einige heftige Watschn verpasst.

Scharner: Ich bin einer, der auf Nachhaltigkeit schaut und das Ganzheitliche. Was ich beim HSV nicht verstehe, ist, dass man ein Nachwuchsleistungszen­trum hat und dann die Spieler immer wieder abgibt, anstatt sie im eigenen Team groß zu machen. Hier sollte ein Umdenken stattfinden.

Clubchef Dietmar Beiersdorfer versucht ja gerade eine Neuorientierung.

Scharner: Und das braucht Zeit, die er kriegen sollte. Dagegen spricht das weit verbreitete Ergebnisdenken. Von Fans, aber speziell von der Öffentlichkeit.

Und die Wortmeldungen von Uwe Seeler und den Athen-Helden von 1983, wie Sie kritisieren. Was ist denn so schlimm daran, schließlich sind Sie doch auch ein Freund der mutig öffentlich vorgetragenen Meinung.

Scharner: Sie können gerne kritisieren, aber dann sollten sie es beweisen und besser machen. Im Hier und Jetzt. Schauen Sie, wir hatten das Thema in Österreich doch auch nach dem Sieg gegen Deutschland 1978 in Cordoba. Das wurde dann über 30 Jahre lang hochgehalten. Die Helden von damals bekamen für 30 Jahre die wichtigsten Jobs rund um den Fußball. Und wo hat das geendet? Fifa-Ranking 80 oder 90!

Sie würden also auch die ewige Bundesliga-Uhr im Stadion abschalten?

Scharner: Meiner Meinung nach wirkt sie sich eher negativ aus. Sie steht symbolisch für zu hohe Ansprüche und Erwartungshaltungen, die aus der Erfolgsgeschichte in den 80ern resultieren. Man vergleicht sich ja in Hamburg häufig mit den Bayern, aber dann muss man auch entsprechend arbeiten. Die Münchner sind ja auch nicht so einfach aus der Asche entstanden.