Hamburg. Vor dem Pokalspiel ist das Gedränge im HSV-Mittelfeld groß. Einer soll noch kommen – doch eine Überraschung könnte Gideon Jung werden .
Knapp zwei Wochen ist es her, als Bruno Labbadia im Klosterpforten-Trainingslager auf ein „Hauen und Stechen im zentralen Mittelfeld“ angesprochen wurde. „Ein H-a-u-e-n und S-t-e-c-h-e-n“, wiederholte Labbadia betont langsam die Worte und schüttelte mit dem Kopf. Marcelo Díaz sei doch noch gar nicht da, Kerem Demirbay und Albin Ekdal hätten Nachholbedarf, Gojko Kacar sowie Petr Jiracek seien verletzt, und Lewis Holtby wäre auch noch nicht in Form. Dann machte Labbadia eine kleine Verschnaufpause und schaute kurz auf den Trainingsplatz. „Bislang mussten wir fast die ganze Vorbereitung mit Gideon Jung im zentralen Mittelfeld spielen. Ein Hauen und Stechen kann ich nun wirklich nicht erkennen.“
Zwölf Tage später hat sich die Situation im Mittelfeld entspannt. Oder angespannt. Je nach Perspektive. Díaz ist jedenfalls wieder da, Demirbay und Ekdal sind im Training, Kacar ist fit und Holtby in Form. Aus Trainerperspektive könnte man nun von einem echten Hauen und Stechen im zentralen Mittelfeld sprechen. Nur eines hat sich in den zwei Wochen so gar nicht geändert: Spielen darf trotz des großen Gedränges weiterhin Jung, Gideon Jung.
Der gebürtige Düsseldorfer mit ghanaischen Wurzeln, ursprünglich als vierter Innenverteidiger vorgesehen, macht seinem Namen alle Ehre. Mit seinen 20 Jahren ist Jung tatsächlich der jüngste Bewerber für einen von drei Mittelfeld-Plätzen in Labbadias neuem 4-3-3-System. Verkaufskandidat Jiracek ist mit seinen 29 Jahren der Oldie. Auch Kacar und Díaz gehören mit ihren 28 Jahren in die Kategorie „erfahren“, Ekdal ist schon 26, Holtby immerhin 24, und Demirbay ist mit seinen 22 Lenzen zumindest der Älteste von den Jungen. Und der Jüngste? Der bleibt bescheiden: „Natürlich freue ich mich total, dass ich so viel spielen darf. Ich hatte auch ein wenig Glück, dass es am Anfang der Vorbereitung Bedarf im Mittelfeld gab“, sagt der Azubi, der so etwas wie der stille und heimliche Gewinner der Vorbereitung ist.
Vor allem der stille. Denn ein Lautsprecher ist Gideon Jung nun wirklich nicht. Gemeinsam mit Kollege Ronny Marcos habe er einfach ein bisschen das gute Wetter in der Stadt genossen, antwortet der Youngster auf die Frage, wie er den freien Montag verbrachte. Allüren? Fehlanzeige. Skandale? Fehlanzeige. Anekdoten oder zumindest mal ein Anekdötchen? Fehlanzeige. „Gideon ist ein ruhiger Junge, zurückhaltend und bescheiden“, sagt Joe Zinnbauer, der Jung vor einem Jahr gemeinsam mit Ex-Sportchef Oliver Kreuzer für 150.000 Euro als Perspektivspieler aus Oberhausen für seine U23 geholt hatte. „Er sollte bei der U23 spielen und sich bei den Profis anbieten“, sagt Zinnbauer, „Gideon hatte nur leider extrem viel Verletzungspech.“
In diesem Jahr nun also Anlauf Nummer zwei. „Persönlich lief es ganz gut für mich, aber die Umstellung zwischen U23 und den Profis ist schon gewaltig“, sagt Jung, der direkt nach dem durchaus passablen Test gegen Verona von Labbadia darauf hingewiesen wurde, was er noch zu verbessern habe. Dabei ist die Rolle des zentralen Mittelfeldmanns für Jung gewöhnungsbedürftig. „In der A-Jugend habe ich noch in der Niederrheinliga bei Baumberg gespielt – als Stürmer“, sagt der 1,89 Meter große Fußballer, der trotz seiner stattlichen Größe vor allem durch seine Schnelligkeit gefällt. Oder gefiel.
„Am Anfang des Sommers wirkte Gideon nach seiner langen Knieverletzung noch ein wenig behäbig. Doch er lernt genauso schnell, wie er normalerweise auch im Laufduell ist“, sagt Zinnbauer. Und es ist mehr als Koketterie, wenn der neue, alte U23-Trainer dem Youngster „eine gute Perspektive beim HSV“ bescheinigt. Diese hat auch HSV-Chef Dietmar Beiersdorfer erkannt. „Gideon hat großes Entwicklungspotenzial. Ihn wollen wir in Zukunft verstärkt fördern“, kündigte der Vorstandschef an, als es darum ging, ob der HSV nach dem Zehn-Millionen-Euro-Verkauf von Jonathan Tah in der Defensive noch mal personell nachlegt.
Doch der HSV legt nicht noch mal nach. Zumindest nicht in der Defensive. Im offensiven Mittelfeld soll dagegen sehr wohl noch eine Verstärkung kommen. Ein Spieler, der den entscheidenden Pass spielen kann. Der überrascht, der kreativ ist und der auch mal den Unterschied machen kann.
All das kann Lewis Holtby. Oder besser: All das konnte Lewis Holtby mal. Denn bei kaum einem Hamburger war der Kontrast zwischen Anspruch und Wirklichkeit in der Vorsaison derart groß wie bei dem früheren Mainzer. Doch wie Jung will auch Holtby das schwierige Vorjahr abhaken und neu durchstarten. Nach null Toren in 22 Spielen in der vergangenen Spielzeit gelang ihm der Neustart inklusive Premierentor bei der Saisongeneralprobe am Sonnabend gegen Hellas Verona schon mal recht gut: „Meine Leistung war nicht so verkehrt“, sagte Holtby nach dem Testspiel, „aber ich muss weiter Gas geben.“
Letzteres gilt selbstverständlich für alle Anwärter auf einen der drei begehrten Startplätze im zentralen Mittelfeld. Bei der Generalprobe gegen Verona durften Jung, Kacar und Ekdal in der Dreierreihe vor der Abwehr anfangen. Copa-Gewinner Díaz, Rückkehrer Demirbay und 6,5-Millionen-Mann Holtby kamen erst nach der Pause zum Zug. Ob das ein Fingerzeig für das erste Pflichtspiel der Saison am kommenden Sonntag gegen Carl Zeiss Jena sei, wollte Trainer Labbadia eine Woche zuvor noch nicht verraten. Nur so viel: „Konkurrenz belebt das Geschäft.“
Also doch ein Hauen und Stechen im Mittelfeld? „Ich haue und steche niemanden“, relativiert Jung, „aber natürlich wäre es ziemlich cool, am Sonntag in Jena dabei zu sein.“