Hamburg. Vor einer Woche wurden Abstieg und anschließender Totalschaden gerade eben abgewendet. Eine Was-wäre-wenn-Geschichte mit Happy End.
Zwei Ordner lagen auf Bruno Labbadias Schreibtisch am vergangenen Dienstag. „Saisonplanung Erste Liga“ stand auf dem einen, „Saisonplanung Zweite Liga“ stand auf dem anderen. Und diesen anderen, den hat sich Labbadia selbst nach dem letzten Klassenerhaltsbier gegen 6 Uhr morgens im Erika’s Eck nicht angeschaut. Bis heute nicht. „Vor der Relegation habe ich es nicht zugelassen, dass ich mir Gedanken um den Abstiegsfall machen musste“, erklärt der Coach. „Das hätten die Spieler auch gemerkt, wenn ich da zweigleisig plane. Peter Knäbel musste das machen, weil es sein Job ist. Mein Job war es, mich nur auf die Mission Klassenerhalt zu konzentrieren.“
Die Mission glückte – Gott und Marcelo Díaz sei Dank. Der Chilene war es, der den Patienten HSV aus dem Sterbebett zurück auf die Intensivstation führte. Und obwohl Labbadia eine Woche nach dem Freistoßtor in letzter Minute den Zweitligaordner bedenkenlos ins Altpapier aussortieren kann, denkt er hier und da noch an den gerade so eben abgewendeten Totalschaden. „Ich finde es bei aller Freude schon gut, wenn man in einem ruhigen Moment mal in sich geht und überlegt: Wie wäre das gewesen? Was wäre passiert, wenn wir wirklich runtergegangen wären?“, fragt er sich selbst. „Da wird man dann sehr demütig.“
20 Millionen Transferüberschuss
Doch was wäre tatsächlich passiert, wenn der HSV runtergegangen wäre? Dass der Club dramatisch hätte sparen müssen, das war schon vor dem letzten Spiel in Karlsruhe bekannt. Doch wie dramatisch die Stunden und Tage nach dem Worst-Case-Szenario abgelaufen wären, war im Detail bislang nicht bekannt. Nun erfuhr das Abendblatt, dass der HSV für die Zweitliga-Lizenzunterlagen, die der Club zwei Tage später hätte einreichen müssen, einen Transferüberschuss von mindestens 20 Millionen Euro in Aussicht gestellt hatte.
Im Klartext: Jeder Profi, der nach der miserablen Saison noch einen Transferwert gehabt hätte, hätte zum Verkauf gestanden. René Adler? Johan Djourou? Lewis Holtby? Pierre-Michel Lasogga? Alle weg! Nicolai Müller, der gerade noch rechtzeitig das Tor zur Rettung schoss, soll im Abstiegsfall vor einem Wechsel zu Hannover 96 gestanden haben. „Profifußball ist Darwinismus pur. Nur der Stärkste überlebt“, sagt Sportchef Peter Knäbel. So hätte er wahrscheinlich keinen einzigen Leistungsträger halten können. Nicht er und Bruno Labbadia hätten den Zweitligakader zusammengestellt, so Manager Knäbel halb im Spaß, halb im Ernst, sondern Frank Wettstein.
Extreme Gehaltsverzichte überall
Der Finanzvorstand selbst wollte sich auf Nachfrage des Abendblatts nicht äußern. Der Finanzexperte würde sich demnächst möglicherweise über die eigenen Vereinsmedien zu Wort melden, teilte der Club mit. Aber man braucht nur wenig Fantasie, um sich vorzustellen, dass ihm und seinen Vorstandskollegen dramatische Stunden bis zum Einreichen der Lizenzunterlagen bevorgestanden hätten.
Geplant war, dass die Verantwortlichen zunächst am Dienstag alle noch unter Vertrag stehenden Spieler gefragt hätten, inwiefern sie zu extremen Gehaltsverzichten bereit gewesen wären. Doch nicht nur die natürlich gut verdienenden Fußballer hätten den Gürtel enger schnallen müssen. Auch auf der Geschäftsstelle, auf der nach Abendblatt-Informationen acht HSV-Mitarbeiter im sechsstelligen Bereich verdienen, hätten drastische Sparmaßnahem eingeleitet werden müssen.
Das Vorstandstrio Dietmar Beiersdorfer, Wettstein und Joachim Hilke hatten schon vor der Relegation sämtliche Unterlagen für den Fall des Abstiegs zusammengestellt. So hätte der Club in der Zweiten Liga ganz konkret mit 43.000 Zuschauern pro Heimspiel geplant. Um finanziell handlungsfähig zu bleiben, hätte der Club zudem bei mehreren Banken neue Darlehen aufnehmen müssen. Außerdem wurde nach Klaus-Michael Kühne und Helmut Bohnhorst ein dritter Privatinvestor gefunden, der dem Club ein Darlehen in Höhe von 2,5 Millionen Euro gewährt hätte, das später in AG-Anteile umgewandelt hätte werden sollen.
Wiederaufstieg äußerst unrealistisch
All die Anstrengungen in den Tagen nach einem Abstieg hätten wohl dazu geführt, dass der HSV tatsächlich eine Zweitligalizenz bekommen hätte. Doch eine schlagfertige Mannschaft, die direkt wieder um den Aufstieg spielen würde, hätten die Verantwortlichen auf keinen Fall zusammenstellen können. Fragt man bei denjenigen nach, die im Gegensatz zu Labbadia in den Ordner „Saisonplanung Zweite Liga“ reingeschaut oder diesen sogar zusammengestellt haben, dann bekommt man immer die gleiche Antwort: Dieser HSV wäre so schnell nicht wieder zurück in die Bundesliga aufgestiegen.
„Für den Verein wäre ein Abstieg die größtanzunehmende Katastrophe gewesen“, sagt Labbadia. „Es ist ein Unterschied, ob ein Club – natürlich bei allem Respekt – wie Freiburg oder wie der HSV runtermuss.“
Doch zumindest diese Was-wäre-wenn-Geschichte hat ein Happy End. Was wäre passiert, wenn Schiedsrichter Manuel Gräfe nicht gepfiffen hätte? Wenn nicht Díaz, sondern Rafael van der Vaart geschossen hätte? Wenn der Ball nichts ins, sondern auf das Tornetz gefallen wäre? Egal! Gräfe hat, van der Vaart hat nicht, der Ball ist. Und auch der HSV ist – weiterhin der einzige Dinosaurier der Ersten Bundesliga.
So feiern die HSV-Fans den Klassenerhalt