Hamburg . Der HSV kann mit einem Sieg in Mainz zum Gewinner des Spieltags werden. Vieles hängt von Trainer Bruno Labbadia ab – ein Porträt.
Am Tag nach dem Triumph mit dem Sieg über Augsburg studierte Bruno Labbadia Videos. Stundenlang sezierte er die Laufwege der Mainzer Spieler, grübelte über die Taktik für den nächsten Teil der Mission Klassenerhalt. Als seine Spieler am Sonntag nach dem Auslaufen ihre Boliden Richtung Heimat steuerten, begann für den neuen Trainer des HSV der Arbeitstag erst richtig. Weiter, immer weiter. Wenn es einen Bundesligatrainer gibt, für den das Credo des ehemaligen Nationaltorwarts Oliver Kahn gilt, dann für ihn. „Es gibt in Deutschland kaum einen Trainer, der mit so viel Akribie, mit so viel Fleiß arbeitet“, sagt ein Vorstand über Labbadia. Andere loben sein innovatives Training, seine Fähigkeit, Mannschaften zu pushen. „Leider steht er sich oft selbst im Weg“, sagt indes ein Vertrauter: „Schauen Sie sich doch nur an, wie er sich vor seinen Pokalendspielen verhalten hat.“
Mit Bayer Leverkusen (2009) und mit dem VfB Stuttgart (2013) erreichte Labbadia das Finale um den DFB-Pokal. Häufiger als Trainer im Berliner Olympiastadion war in den vergangenen zehn Jahren nur Jürgen Klopp, der am 30. Mai mit Dortmund sein drittes Endspiel bestreiten wird. Labbadia verlor seine Finals knapp. Für wesentlich mehr Schlagzeilen sorgte er mit seinen Auftritten zuvor. In Leverkusen attackierte er seine damaligen Chefs („Ein Weiter-so kann es nicht geben“), prangerte die mangelnde Leistungsbereitschaft mehrerer Spieler an. Das ausgerechnet am Finaltag in der „Süddeutschen“ erschienene Interview verdarb der Bayer-Delegation die Stimmung schon vor dem Anpfiff, es war der Steilpass für den späteren Rauswurf.
In Stuttgart rechnete Labbadia mit den lokalen Reportern ab: „Arsch geleckt“
Vier Jahre später feierten in Stuttgart Zehntausende den Pokalhalbfinalsieg gegen Freiburg. Nur Labbadia blickte genervt ins Fahnenmeer und schimpfte via TV: „Wir sind zweimal in die Europa League eingezogen, aber manchmal hat man das Gefühl, es ist nur Dreck.“ Es war Teil zwei seiner legendären Wutrede; zuvor hatte er mit den Stuttgarter Reportern abgerechnet. Er sei es leid, wie ein „Depp“ behandelt zu werden, dann müsse er eben sagen: „Arsch geleckt“.
Wieso gibt einer die „beleidigte schwäbische Leberwust“ („taz“), statt sich einfach mal zu freuen? Wieso muss Bruno Labbadia ständig nach dem Haar in der Suppe fahnden? Für die Suche nach Antworten lohnt eine Zeitreise zurück in die 1970er. Nach Weiterstadt, 20 Kilometer südlich vom Frankfurter Flughafen. Hier wuchs Bruno Labbadia auf, jüngstes von neun Kindern einer italienischen Gastarbeiterfamilie. „Sein Vater Paulo war selten zu Hause. Der hat fast rund um die Uhr im Tiefbau geschuftet“, erinnert sich sein Freund und langjähriger Mitspieler Dirk Römer. Die Mutter arbeitet in einer Gardinenfabrik, das Geld ist knapp. Der kleine Bruno bolzt mit Freunden jeden Tag auf der Wiese hinter dem Haus. Mit 13 lernt er Fritz Walter kennen; der Ehrenspielführer der deutschen Nationalmannschaft schickt ihn als Sieger eines Talentwettbewerbs zum großen Pelé nach New York. Der Ratschlag, den ihm der große Fritz mitgab, hat ihn geprägt: „Junge, nach oben kommen ist schwer, oben bleiben aber noch viel schwerer.“
Labbadia zog aus diesem Satz die Konsequenz: Ich muss härter arbeiten als andere. Niemanden hat er so bewundert wie seine inzwischen verstorbenen Eltern, die ihr Haus Monat für Monat abstotterten, zu stolz, um sich von ihrem Sohn, dem gut verdienenden Jungprofi, auch nur eine Mark schenken zu lassen. Einer wie er sehnt sich nach Anerkennung für harte Arbeit, kann mit Kritik nur schlecht umgehen. „Bruno hat am Ende in Hamburg jedes Wort auf die Goldwaage gelegt“, sagt ein Weggefährte. Labbadia brauche ohnehin lange, um Vertrauen zu fassen.
Schon als Profi war Labbadia lieber weitergezogen, wenn er sich unkorrekt behandelt fühlte. Nirgendwo bei seinen Profistationen Darmstadt, HSV, Kaiserslautern, Bayern, Köln, Bremen, Bielefeld und Karlsruhe hielt es ihn länger als drei Jahre. „Ich bin ein Mensch, der immer mit dem Herzen dabei sein muss. Wenn ich das Gefühl habe, dass da etwas ist, was mich dazu bewegt, nicht voll dabei zu sein, ziehe ich meine Konsequenzen“, hat er einmal gesagt. Mit der gleichen Sturheit wollte er als Kind seine Muttersprache nicht mehr lernen, nachdem er als „Spaghettifresser“ beleidigt wurde.
Genau an dieser Melange scheiterte auch sein erstes Engagement beim HSV. Als er mit dem Verein 2010 nach einem überragenden Start die erste sportliche Talsohle durchschritt, reagierte Labbadia zunehmend verspannt auf Kritik von Medien und Spielern, die über das stundenlange Einüben von Laufwegen bei Minusgraden nölten. Dann legte er sich auch noch mit seinen Stars an, allen voran Zé Roberto. Nur mit Mühe ertrug Labbadia, dass der Brasilianer darum bat, in Länderspielpausen bei der Familie in München bleiben zu dürfen. Extrawürste? Ein Unding für den Besessenen. Früher, hat Labbadia einmal gesagt, hätte selbst die Geburt eines Kindes als Entschuldigung nicht gereicht.
Als Zé Roberto dann noch ein Trainingslager schwänzen wollte, platzte Labbadia der Kragen und ordnete sofortiges Erscheinen an. Kurz darauf machte er sich Ruud van Nistelrooy zum Feind. Als der Holländer nach einer indiskutablen Leistung in Mönchengladbach ausgewechselt wurde, zischte er dem Trainer zu: „Sie haben mich um meine WM gebracht.“ Denn auf der Tribüne saß sein Nationaltrainer. Van Nistelrooys Landsmann Joris Mathijsen solidarisierte sich sofort mit dem Torjäger. Frank Rost komplettierte die Riege der Labbadia-Gegner. Ohne Rücksprache hatte der Torwart im Trainingslager vor einem Heimspiel einen Kinobesuch mit Mitspielern organisiert. Nach dem Rüffel des Trainers trat Rost beleidigt aus dem Mannschaftsrat zurück. Den Machtkampf gegen die Stars konnte Labbadia nicht gewinnen, zumal jeder Puffer zwischen ihm und dem Team durch den vakanten Sportchef-Posten fehlte.
Ist Labbadia zu stur für dieses Geschäft, ohne das nötige Fingerspitzengefühl für die Befindlichkeiten der Millionäre in kurzen Hosen und ihren Beratern, wie es einer seiner Ex-Chefs bekrittelt? Man kann das so sehen, ein Menschenfänger wie Klopp ist er ohnehin nicht, Labbadia setzt auf Distanz, bleibt lieber beim Sie. Man kann aber auch sagen, dass Labbadia nur seine Werte wie Disziplin, Ehrgeiz und Gerechtigkeit konsequent lebt. Einer wie David Jarolim, Prototyp des Kämpfers mit der Raute im Herzen, drohte nach dem verkündeten Rauswurf in der Kabine: „Dann gehe ich auch.“
Vor seinem zweiten Job beim HSV war er mehr als anderthalb Jahre arbeitslos
Gut drei Jahre später das Déjà-vu in Stuttgart: Labbadia sorgt erneut für überragenden Erfolg, führt den abgeschlagenen Tabellenletzten gar ins internationale Geschäft. Dann Talsohle, Krach mit Medien, Ärger im Verein, Entlassung. Vielleicht wird dieser Rauswurf am 26. August 2013 einmal die Wende in Labbadias Karriere markieren. Denn zum ersten Mal überhaupt musste der Besessene mehr als eineinhalb Jahre Wartestand ertragen. Gespräche mit Hertha BSC und auch dem HSV zerschlugen sich – für einen wie ihn eigentlich ein Alptraum.
Wer ihn indes Ende März in Hamburg traf, erlebte indes seinen ganz anderen Bruno Labbadia. Entspannt, nachdenklich, klug, selbstkritisch. Einer, der vieles hinterfragt, auch sich selbst. Und vor allem zuhören will. Die Pause, sie hat ihm gut getan. Mehrmals reiste er nach England und Italien, um anderen Trainern über die Schulter zu schauern. Begeistert erzählte er vom Umbau einer alten Werkstatt in St. Georg zu einem Loft, wo er jetzt mit seiner Frau lebt. Und er sprach über den HSV, über die bittere Entlassung, die ihm die Chance auf das Europa-League-Endspiel im Volkspark raubte. „Meine Mission ist hier nicht vollendet“, sagte er beim Abschied.
Zu diesem Zeitpunkt konnte er nicht ahnen, dass ihm nur zwei Wochen später Dietmar Beiersdorfer den Job als HSV-Retter anbieten würde. Labbadia sagte sofort zu, obwohl die statistische Wahrscheinlichkeit für den Klassenerhalt bei gerade einmal zehn Prozent lag. Noch in der Nacht ordnete er an, dass er mit dem Team sofort raus will aus Hamburg, raus aus der Fast-Abstiegstristesse. Im Trainingslager in Rotenburg sprach er besonders viel mit Pierre-Michel Lasogga, den bislang so enttäuschenden Torjäger des HSV. Er erkannte im Gegensatz zu seinen Vorgängern, dass Lasogga, dieser Bulle mit dem ganz sensiblen Herz, dringend Streicheleinheiten braucht. Er redete ihn stark, legte wie ein Vater den Arm um seine mächtigen Schultern, sagte immer wieder, wie sehr er auf ihn baue. Lasogga zahlte das Vertrauen mit seinem fulminanten Siegtor zum 3:2 über Augsburg zurück.
Als die Fans den Erfolg wie eine Meisterschaft feierten, stand auch Labbaddia im Fokus der Kameras. Und wer ihn gut kennt, musste fürchten, dass er erneut seine bekannte Anti-Euphorie-Platte auflegen würde. Mit dem bekannten (und wahren) Tenor, dass man noch nichts erreicht habe. Und dass es zum Feiern keinen Grund gebe. Stattdessen sog Bruno Labbadia einfach nur die Euphorie auf, lobte Gänsehaut-Atmosphäre und großartige Fans.
Der Besessene hat gelernt, definitiv. Nicht die schlechteste Voraussetzung für eine lange zweite Amtszeit.