Hamburg. Rajkovic ist bereits der neunte Leistungsträger, der im Abstiegskampf fehlt. Kann man bei so vielen Verletzten noch von Pech sprechen?

Das medizinische Bulletin, das Joe Zinnbauer jeden Morgen über den Verletzungsstand seiner Profis erhält, lässt für den HSV-Trainer eigentlich nur einen Schluss zu: „Ich hätte mal besser Arzt werden sollen.“ Eine Art Hobbymediziner ist der Fußballlehrer ohnehin schon längst. Zinnbauer weiß, was eine Klavikulafraktur ist, wie lange man bei einer Teilruptur des Innenbandes ausfällt und was es bedeutet, wenn man freie Gelenkkörper im Knie entfernen muss. Nur eines weiß Zinnbauer nicht: Womit hat der HSV eigentlich so viel Pech verdient?

Slobodan Rajkovic, der sich am Sonnabend beim 1:2 gegen Eintracht Frankfurt eine langwierige Verletzung des rechten Knies zugezogen hat, ist bereits der neunte Leistungsträger, der dem HSV aktuell im Abstiegskampf fehlt. Längst machen Scherze die Runde über die wahrscheinlich beste HSV-Mannschaft aller Zeiten, die eben nicht spielt. „Wir dürfen die ganzen Verletzungen nicht als Ausrede nutzen. Aber derzeit haben wir ganz einfach ein unverschämtes Pech“, sagt Zinnbauer.

Tatsächlich liest sich die Liste der HSV-Versehrten wie das erste Kapitel des Standardwerks „Sportmedizin – Physiologische Grundlagen“. Es gibt nichts, was es nicht gibt: eine simple Magendarmgrippe (René Adler), Muskelfaserrisse (Marcell Jansen, Cléber, Ivica Olic) und eine Kapselverletzung unterhalb des Knies (Rajkovic). Ein handelsüblicher Schlüsselbeinbruch (Lewis Holtby), ein ramponiertes Knie (Valon Behrami), ein Innenband-Anriss (Marcelo Díaz) und last but not least eine mysteriöse Oberschenkelverletzung (Pierre-Michel Lasogga).

Aber ist das wirklich nur Pech?

In Wahrheit ist die Misere des HSV gar nicht so überraschend, wie sie zunächst daherkommt. Unter Medizinern ist es jedenfalls schon lange Konsens, dass das Verletzungsrisiko besonders im stressigen Abstiegskampf steigt. „Es ist tatsächlich so, dass ganz generell die Häufigkeit von Verletzungen im Abstiegskampf steigt. Auf den gewaltigen Druck kann man keinen Körper vorbereiten“, sagt der frühere HSV-Mannschaftsarzt Philip Catalá-Lehnen. „Im Idealfall laufen und kämpfen die Mannschaften mehr, was allerdings dazu führt, dass die Spieler auch schneller müde werden. Das wiederum führt zu einem höheren Verletzungsrisiko, was allerdings nichts mit der Qualität der medizinischen Betreuung zu tun hat“, erklärt Catalá-Lehnen, der mittlerweile als Ärztlicher Direktor das Lans Medicum, ein Zentrum für Sport- und Regenerationsmedizin am Stephansplatz in der Innenstadt, leitet.

HSV verliert in Frankfurt

Der auffällige Lucas Piazon im Zweikampf mit Nicolai Müller
Der auffällige Lucas Piazon im Zweikampf mit Nicolai Müller © ThorstenWagner
Alexander Meier verliert das Kopfballduell gegen Gojko Kacar
Alexander Meier verliert das Kopfballduell gegen Gojko Kacar © ThorstenWagner
Frankfurt-Trainer Thomas Schaaf an der Seitenlinie
Frankfurt-Trainer Thomas Schaaf an der Seitenlinie © Alex Grimm
Frankfurts Alexander Madlung foult Hamburgs Mohamed Gouaida
Frankfurts Alexander Madlung foult Hamburgs Mohamed Gouaida © Christian Klein
Gojko Kacar und Makoto Hasebe
Gojko Kacar und Makoto Hasebe © Alex Grimm
Rafael van der Vaart saß von Beginn an auf der Bank
Rafael van der Vaart saß von Beginn an auf der Bank © Alex Grimm
Frankfurts Elfmetertorschütze Alexander Meier (M) jubelt mit seinen Mannschaftskollegen Takashi Inui (l-r), Stefan Aigner und Marc Stendera
Frankfurts Elfmetertorschütze Alexander Meier (M) jubelt mit seinen Mannschaftskollegen Takashi Inui (l-r), Stefan Aigner und Marc Stendera © Christian Klein
Kurz vor der Pause jubelte dann der HSV: Zoltan Stieber traf zum 1:1
Kurz vor der Pause jubelte dann der HSV: Zoltan Stieber traf zum 1:1 © Alex Grimm
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Es gibt auch wissenschaftliche Untersuchungen, nach denen es im Profifußball während schwieriger Phasen häufiger zu Verletzungen kommt. Vor allem der Druck würde steigen, dass möglicherweise noch angeschlagene Spieler früher als vorgesehen wieder spielen sollen. Oft sind es nur kleinere Wehwehchen – aber wenn diese nicht ausgeheilt werden, droht im schlimmsten Fall gleich die nächste Verletzung.

Olic Beispiel für Teufelskreis

Bestes Beispiel für diesen Teufelskreis beim HSV ist Neuzugang Olic. Der Kroate hatte mit seinen 35 Jahren schon allerhand Verletzungen, ein Knorpelschaden war dabei, ein Sehnenanriss, ein Außenbandriss und sogar ein Nasenbeinbruch. Aber über ernsthafte Muskelprobleme musste sich der Sturm-Oldie in seiner bisherigen Karriere kaum Gedanken machen – bis jetzt. So ließ sich Olic vor zwei Wochen beim 0:8 gegen Bayern München bereits nach 24 Minuten auswechseln, weil – frei nach Lothar Matthäus – der Muskel im Oberschenkel zumachte. „Alles nicht so schlimm“, sagte Olic nach der Partie, und versuchte es gleich im nächsten Spiel gegen Gladbach aufs Neue. Diesmal hielt der Oberschenkel eine Minute länger durch, nach 25 Minuten war für den Torjäger Schluss.

Chronische Probleme mit dem Oberschenkel plagen auch Lasogga, der sich deswegen genau wie Olic in München bei Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt untersuchen lässt. Doch anders als bei Olic tut sich Bayerns Mannschaftsarzt bei Lasogga mit einer konkreten Diagnose schwer. Müller-Wohlfahrt hat den Problempatienten bereits zu einer ganzen Reihe von Spezialisten überwiesen. Sogar beim Zahnarzt ist der Stürmer gewesen, um sich die Weisheitszähne ziehen zu lassen. Gebracht hat all dies bislang noch nichts. Noch immer macht der Oberschenkel Zicken, allerdings will Lasogga Mitte bis Ende der Woche trotzdem ins Mannschaftstraining einsteigen.

Behrami gegen Dortmund wieder dabei?

Etwas weiter im Plan ist Valon Behrami. Bereits seit Donnerstag ist der Schweizer, der sich in der Winterpause einer Knie-OP im Schweizer Tessin unterzog, wieder im Mannschaftstraining. Bleibt das Knie stabil, könnte Behrami sogar schon in den Kader am Wochenende gegen Borussia Dortmund rutschen. Das Problem: Wirklich stabil ist das Knie schon lange nicht mehr. Bereits beim Medizincheck im vergangenen Sommer war den HSV-Ärzten aufgefallen, dass Behramis linkes Knie Verschleißerscheinungen weit über das normale Maß hinaus aufwies. Aber: Nur durch diese Knieverletzung war der in ganz Europa begehrte Nationalspieler überhaupt bezahlbar. Zudem kündigte der WM-Teilnehmer schon damals an, dass er sich in der Winterpause durch den Schweizer Mannschaftsarzt Cuno Wetzel einem kleineren Eingriff unterziehen lassen wolle. Dass aus dem „kleinen Eingriff“ eine große Sache werden könnte, wollte damals allerdings noch niemand glauben.

Wirklich dramatisch erscheint das HSV-Verletzungspech, wenn man alle Verletzten und Angeschlagenen der ganzen Rückrunde zusammenrechnet. So bleiben am Ende gerade mal sechs Spieler übrig, die im gerade erst begonnenen Kalenderjahr 2015 noch gar nicht über ein Wehwehchen klagten: Johan Djourou, Ashton Götz, Zoltán Stieber, Rafael van der Vaart, Gojko Kacar und Artjoms Rudnevs. Nicht zu vergessen der Trainer: „Ich werde eigentlich nie krank“, sagt Zinnbauer.