Nach dem WM-Aus wegen einer Wadenverletzung fehlt dem HSV-Kapitän ein wichtiges Schaufenster. In seiner niederländischen Heimat wird van der Vaarts Pech nüchtern analysiert.

Hamburg. Die Hoffnung war riesengroß gewesen, nach den so schwierigen Monaten in Hamburg alle Sorgen und Ängste hinter sich lassen zu können. „Es fühlt sich wie eine Befreiung an nach so einer Saison mit dem HSV“, sagte Rafael van der Vaart nach seiner Ankunft im Trainingslager der niederländischen Nationalmannschaft. An der portugiesischen Algarve glaubte der 31-Jährige an einen Neustart: „Wenn du zur Nationalmannschaft kommst, wird im Hotel oder auf dem Trainingsplatz nicht nur über die HSV-Probleme gesprochen. Da stehen logischerweise andere Themen auf dem Programm.“ Und weiter: „Das sportliche Niveau ist natürlich auch höher. Es sind Spieler da, die in dieser Saison Titel gewonnen haben. Deshalb ist die Stimmung hier positiv. Ich fühle mich richtig wohl.“

Nur wenige Tage später sind diese Sätze Makulatur. Bondscoach Louis van Gaal strich mit van der Vaart (109 Länderspiele) seinen erfahrensten Akteur wegen einer Wadenblessur aus dem WM-Aufgebot. Unter van Gaal hatte van der Vaart 2001 beim 4:0 gegen Andorra debütiert und in den folgenden Jahren an den Weltmeisterschaften 2006 und 2010 sowie an den Europameisterschaften 2004, 2008 und 2012 teilgenommen. Jetzt könnte der frühere Bayern-Trainer nicht nur für den Anfang, sondern auch das Ende einer großen internationalen Karriere stehen.

„Ich bin sehr enttäuscht, nicht in Brasilien dabei sein zu können“, reagierte van der Vaart kurz nach der offiziellen Bestätigung auf seiner Facebook-Seite frustriert, „es war wunderbar, wieder im Oranje-Team zu sein, und ich hatte mich sehr auf die Zeit bei der WM gefreut. Ich wünsche der Mannschaft eine erfolgreiche und wunderbare Weltmeisterschaft.“

So schockierend das WM-Aus für van der Vaart auch sein mag – in seiner Heimat wurde die Nachricht realistisch-nüchtern eingeschätzt. „Das ist keine Katastrophe für die niederländische Nationalmannschaft“, kommentierte beispielsweise NOS-Reporter Ronald van der Geer und verwies darauf, dass die Rolle der Nummer zehn sowieso für Wesley Sneijder reserviert sei. Im Trainingscamp konnte van der Vaart, wegen einer Erkältung deutlich geschwächt, von Anfang an nicht am Mannschaftstraining teilnehmen.

Aus HSV-Sicht bedeutet dies, dass nur Johan Djourou (Schweiz) und Milan Badelj (Kroatien) den Club in Brasilien vertreten werden. Allerdings hat der Mittelfeldmann derzeit mit Adduktorenproblemen zu kämpfen, was zum Anti-Lauf des HSV passt. Erst am 2. Juni gibt Nationaltrainer Niko Kovac seinen endgültigen Kader bekannt. Während Ivo Ilicevic kurzfristig verletzungsbedingt gestrichen wurde, hofften René Adler, Heiko Westermann, Pierre-Michel Lasogga und Marcell Jansen vergeblich auf eine Nominierung, Kameruns Trainer Volker Finke verzichtete auf Jacques Zoua. Hakan Calhanoglu (Türkei), Artjoms Rudnevs (Lettland) sowie Jaroslav Drobny und Petr Jiracek (beide Tschechien) konnten sich mit ihren Ländern nicht qualifizieren.

Welch ein Unterschied zur WM-Endrunde 2010, als im DFB-Team mit Piotr Trochowski, Marcell Jansen, Jerome Boateng und Dennis Aogo vier HSV-Profis standen und auch Eljero Elia, Joris Mathijsen, Guy Demel und Maxim Choupo-Moting in Südafrika weilten. Nur ein schwacher Trost dürfte es sein, dass Nordrivale Werder Bremen erstmals seit 1962 keinen einzigen WM-Teilnehmer stellt.

Möglicher Verkauf wird schwieriger

Dies alles aber dürfte van der Vaart wenig interessieren. Er hat nun im Urlaub ausgiebig Zeit, sich Gedanken über den weiteren Verlauf seiner Karriere zu machen. Sein Vertrag in Hamburg endet zwar erst am 30. Juni 2015 und der Vize-Weltmeister von 2010 hat auch bereits erklärt, dass er gerne in Hamburg bleiben möchte. Doch es ist bekannt, dass der HSV seinen Gehaltsetat von 43 auf mindestens 38 Millionen Euro drücken möchte. Allein deshalb wäre ein Verkauf des Topverdieners (3,5 Millionen Euro) von Vorteil, der aber nun deutlich schwieriger wird, da sich der Niederländer nicht im Schaufenster einer WM präsentieren kann. Spekulationen wie das angebliche Interesse von Besiktas Istanbul, die aber längst abgewinkt haben, wird es in den kommenden Wochen sicher viele geben. Aber wer wagt schon die Prognose, dass van der Vaart wieder zu alter Stärke findet?

„Ich werde als Trainer alles dafür tun, dass er in eine Verfassung kommt, in der er wieder für Furore sorgen kann, und vielleicht gibt ihm die WM auch noch mal einen Schub“, hatte Slomka in einem „Kicker“-Interview Anfang der Woche gesagt. „Aber es liegt vor allem an Rafael selbst, ob er sich auch von vielen Problemen lösen kann. Klar ist: Es gibt keine Sonderrolle, wir werden jeden genau unter die Lupe nehmen.“

Die Verpflichtung von Zoltan Stieber aus Fürth war ein erstes Signal, wie Slomkas bevorzugtes Personal in der neuen HSV-Saison aussieht. Mit wendigen und vor allem schnellen Spielern will der Trainer, ähnlich wie er es bereits mit Hannover 96 erfolgreich praktizierte, zügige Angriffe vortragen. Als „Schnelligkeit im Umkehrspiel“ bezeichnete Slomka einmal die Taktik, nach einer Balleroberung im ICE-Tempo den Gegner zu attackieren. In Trainingseinheiten pfiff er gerne mal Angriffe ab, die nicht nach zehn Sekunden abgeschlossen waren.

Neues System als Hypothek

Dass van der Vaarts Technik außergewöhnlich ist, steht außer Frage, doch zu den schnellsten Fußballern gehörte er noch nie. Erschwerend kommt hinzu, dass Slomka in der neuen Spielzeit erwägt, im 4-4-2-System mit zwei echten Stürmern agieren zu lassen. Darin hätte van der Vaart nur eine Rolle in der Variante mit einer Raute im Mittelfeld sicher, doch Slomkas Philosophie würde eher eine Formation mit einer „flachen Vier“, also zwei zentralen Mittelfeldspielern, entsprechen.

Klaus-Michael Kühne, deren Ehefrau Christine ein großer Van-der-Vaart-Fan ist und der mit seinem Acht-Millionen-Darlehen 2012 die Rückkehr von Tottenham nach Hamburg möglich machte, hat vorsorglich schon einmal via „Bild“ erklärt, dass er ihm und einem möglichen Transfer nicht im Wege stehen werde: „Rafael sollte schnell Klarheit haben, wo er in der kommenden Spielzeit kicken wird.“

Und so könnte Dietmar Beiersdorfer durchaus in wenigen Wochen eine ähnliche Rolle einnehmen wie in der Elftal van Gaal. Mit dem designierten Chef der neuen Fußball-AG würde dann ausgerechnet der Mann van der Vaart abgeben, der den „Engel“ 2005 einst das erste Mal zum HSV gelotst hatte.