Während die Fußballer des HSV gegen Fürth eine bescheidene Vorstellung ablieferten, zeigten sich die Fans weltmeisterlich, findet Dieter Matz. Ein Rundum- und Rückblick.
Untröstlich ist er, verzweifelt und ohne Hoffnung. Die Tränen laufen unaufhörlich, sein Schmerz ergreift Umstehende. Bis ihn der Freund in die Arme nimmt. Die beiden HSV-Anhänger um die Mitte 30 bleiben in der Dunkelheit der Nacht genau vor dem Uwe-Seeler-Fuß im Norden der Arena stehen und suchen hier Trost. Das enttäuschende 0:0 des HSV im ersten Relegationsspiel gegen die Spielvereinigung Greuther Fürth forderte seinen Tribut. „Ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr, ich bin platt. Der HSV wird absteigen, wir werden ein Zweitliga-Club, Ende.“ Und wieder Tränen. Der HSV-Fan heult so hemmungslos und herzzerreißend, dass ihn die Aufbauversuche etlicher ebenfalls tief geknickter HSV-Anhänger nicht trösten können, die ihm im Vorbeigehen zurufen: „Kopf hoch, Alter, das wird noch.“ Oder: „Abgerechnet wird zum Schluss.“ Und: „Das Leben geht weiter ...“
Die beiden Freunde lassen sich auf dem harten Beton nieder, gerade so, als hätten sie ihr Nachtquartier gefunden. Sie müssen sich in diesem Moment zwischen Himmel und Hölle befinden. Was sich Stunden zuvor noch ganz anders angefühlt hat. Da standen sie auf der Nordtribüne und gaben schon weit vor dem Anpfiff alles. Alles für ihren HSV. „Niemals Zweite Liga, niemals, niemals.“ Und sie sangen mit Tausenden gemeinsam: „Sechsmal Deutscher Meister, dreimal Pokalsieger – immer Erste Liga, HSV!“
Die Fans verausgaben sich, sie lassen nicht nach, sie lassen nicht locker
Die HSV-Profis hatten vor dem so eminent wichtigen Spiel, in dem es ums Überleben des letzten Dinos der Liga ging, vollmundig versprochen: „Wir reißen uns für den HSV den Hintern auf!“ Die Fans sagen es nicht nur, sie tun es. Es fegt an diesem 15. Mai 2014 kein Sturm durch den Volkspark, sondern ein Fan-Tornado. Nie war es in der Arena lauter als an diesem ersten HSV-Relegationsabend. Die Anhänger der Rothosen verausgaben sich über Stunden und nach allen Regeln der Fan-Kunst, sie lassen nicht nach, sie lassen nicht locker – das ist weltmeisterlich.
Da wackeln die Betonwände, da sind die Leidenschaft und die Welle der Begeisterung um die drei großen Hamburger Buchstaben noch im Umkreis von Kilometern zu hören, fast sogar zu fühlen. Dieser Lärm, diese Emotionen, diese großartige Stimmung – sensationell. Schals, Fahnen, Fußball, dazu der Geruch von Bier und Wurst, das ist ein besonderes Gemisch, das für einen einzigartigen Festtag sorgen kann. Diesmal allerdings schlägt diese grandiose Stimmung mit nur einem Pfiff schlagartig in Ernüchterung um. Mit dem Schlusspfiff beginnt das große Heulen, das Hadern, die schiere Verzweiflung.
Dabei sollte das der Tag des HSV werden. Ein klarer Sieg gegen Greuther Fürth, ein 3:0 oder 4:0 sollte die Sache Klassenerhalt in Hamburg schon klarmachen. Sollte. Dieser Traum ist nach 90 schwachen HSV-Minuten ausgeträumt, denn erneut haben ihre Helden, ihre Lieblinge versagt. Wie so oft in dieser Spielzeit. Der Erstliga-Vertreter, der einst so glorreiche Zeiten erlebte, ist in seinem Heimspiel schlechter als das Team aus der Zweiten Liga. Aber an Aufgabe denkt auf den Tribünen niemand. Sie alle sind gekommen, um ihren HSV zum Sieg zu brüllen, zu schreien, zu pushen. Weil sie sich so sehr einen Erfolg erhoffen, wünschen und ersehnt haben.
Die meisten Fans halten seit Jahren zu ihrem Verein – und halten zusammen. Wie eine große HSV-Familie, die sich alle 14 Tage trifft, um aus der Arena ein Tollhaus zu machen. Und um ein Fußball-Spektakel der besonderen Art zu erleben. Ein HSV-Spiel mit Nervenkitzel, natürlich mit erfolgreichem Ausgang – es gibt nichts Schöneres. Gelegentliche Gänsehaut inklusive. Mitfighten und, wenn es sein muss, auch mitzittern, das gibt jedem den besonderen Kick. Dafür ist ihnen kein Weg zu weit, keine Eintrittskarte zu teuer. Auch an diesem Donnerstag sind sie wieder aus dem Westen, Süden und dem Osten gekommen, um hinter ihrem Club wie eine Wand zu stehen. Sie alle haben ihr Bestes gegeben, doch wieder hat es nicht gereicht.
Das war früher, zu guten alten Oberliga-Zeiten, ganz anders. Der HSV um Uwe Seeler, Horst Schnoor, Jochen Meinke, Erwin Piechowiak, Klaus Neisner, Klaus Stürmer und auch Gert „Charly“ Dörfel legte mit der Meisterschaft 1960 den Grundstein für einen HSV, der national und in Europa zu Ruhm und Ehren kam. Eine Zeit ohne Hooligans und ohne Ultras in den kleinen Stadien, ohne große Gewalt und auch ohne Randale.
Im August 1959 sah ich, der damals bei den Knaben von Barmbek-Uhlenhorst spielte, mein erstes HSV-Spiel live am Rothenbaum. Ein legendäres 9:1 gegen Werder Bremen, drei Tore Seeler, vier Tore Neisner. Es war Liebe auf den ersten Blick – ich kam wieder. Bis zur Einführung der Bundesliga saß ich am Eingang Turmweg immer auf dem Zaun und genoss Sieg um Sieg „meines“ Vereins. Und ich war beim Training. Ich sah, wie Uwe Seeler und „Charly“ Dörfel etliche Sonderschichten nach dem Training einlegten, um Flanken zu üben – und Volleyschüsse, Fallrückzieher, Hechtkopfbälle. Die Stars von damals waren für die Fans zum Anfassen nahe.
Donnerstags, wenn Trainer Günther Mahlmann zum Abschlusstraining gebeten hatte, erlebten wir Anhänger immer etwas Besonders. Am Ende der Einheit versammelte der Coach die Mannschaft in der ersten Reihe der alten Holztribüne (an der Umkleidekabine), dann wurde über den kommenden Gegner vom Sonnabend gesprochen. Wir Fans saßen einige Reihen über den Spielern und konnten zuhören. Nicht selten lief Uwe Seeler vor seinen Teamkollegen auf und ab, um auch ein paar Worte über das bevorstehende Spiel zu verlieren. Mahlmann setzte sich dann zu seinen Jungs, und „uns Uwe“ ging in der Manier von Sepp Herberger, mit verschränkten Armen auf dem Rücken, auf und ab, sprach über Stärken und Schwächen des Gegners. Wir Fans immer hautnah dabei, immer schön auf Ballhöhe. Auch deswegen wurde die Zuneigung zum HSV immer größer.
Die Leidenschaft einiger HSV-Anhänger nimmt bisweilen skurrile Züge an
Auf den Rängen des Rothenbaums ging es in der Regel friedlich zu, der Fußball stand im Mittelpunkt, der HSV sollte gewinnen – und wurde frenetisch angefeuert. Meistens gab es nur drei Buchstaben an der Rothenbaumchaussee zu hören: „HSV, HSV, HSV!“ Oder: „Uwe, Uwe, Uwe.“ Draußen vor dem Stadion liefen die Verkäufer des Spieltag-Heftchens umher und riefen immer wieder: „,Lipphardt’s Sportprogramm‘, ,Lipphardt’s Sportprogramm‘.“ Auf den Stehplätzen kämpften sich die Verkäufer mit Bauchläden durch die Massen und boten ihre Ware an: „Bonsche, Bonsche, Kautsche, Kautsche, Pfefferminz!“ Ein älterer Herr musste aufpassen, dass ihm dabei nicht noch die allerletzten Zähne aus dem Munde herausfielen... Fußball von damals, fein, hautnah, handzahm und etwas für die Experten, die sich dafür hielten.
Mit dem Titelgewinn und dem ersten Start im Europapokal, einem 5:0 und einem 3:3 gegen die Young Boys aus Bern war dann spätestens meine „ewige Partnerschaft“ besiegelt. Einmal HSV, immer HSV. Wer mit dem HSV-Virus infiziert ist, der weiß, dass es kein Entrinnen mehr gibt – dann macht dieser Verein süchtig. Auch in der Bundesliga, obwohl es dort von 1963 zunächst viel härtere Zeiten zu durchleben gab. Nicht selten durfte lange gezittert werden, bevor der Abstieg kein Thema mehr war. Damals, so mein Gefühl, schweißte die Angst vor dem Sturz in die Zweitklassigkeit eher zusammen.
Die Fan-Gemeinde aber veränderte sich. Die Westkurve im Volksparkstadion wurde von vielen als „äußerst gefährlich“ erachtet, und sie war es wohl auch. Handgreiflichkeiten nahmen zu. Der „harte Fan“ war in seinen Mitteln nicht wählerisch. Ich erinnere mich an ein Spiel gegen den FC Bayern. Der HSV lag hoch im Rückstand, als sich viele, auch im Westen, vorzeitig auf den Heimweg machten. Draußen, vor den Stadiontoren, standen Autos in Schlangen, niemand fühlte sich zuständig, ihnen die Abfahrt zu ermöglichen. Was machten die Fans? Sie stiegen auf die Autos, liefen vom Dach zur Haube und zum nächsten. In den Pkws gingen die Fahrer in Deckung, zogen ihre Köpfe ein. Der zimperliche Fußball war vorbei.
Aber die Leidenschaft der HSV-Anhänger nahm zu, nahm skurrile Formen an. Es gab eine Fan-Szene, die es sich zum Ziel gemacht hatte, überall dort, wo der HSV in Deutschland und der Welt spielte, dabei zu sein. Als es in den 90er-Jahren einmal in den Iran ging, war dieses Kapitel beendet. Jedenfalls für fast alle. HSV-Anhänger Hauke N. allerdings wollte sich nicht damit abfinden, dass er die Reise nach Teheran nicht mit antreten durfte. Er ging von Zeitung zu Zeitung und bat die Chefs, für diesen Trip als „Journalist“ akkreditiert zu werden. Eine Zeitung machte mit – das Hamburger Abendblatt. Dabei sein ist alles. Jedenfalls für echte und ganz leidenschaftliche Fans.
Das gilt auch für Trainingslager. Die weitesten Fahrten wurden auf sich genommen, um dem HSV auf den Fersen zu bleiben. Auch im Frühjahr 1993, als es den HSV nach Chiclana de la Frontera (in der Nähe von Xerez) gezogen hatte. Die Rothosen hatten bis in den Winter mit der Abstiegszone zu tun, der Trainer wurde gewechselt, für Egon Coordes kam Benno Möhlmann. Und bei einem Training auf einem Golfplatz (!) sagte mir HSV-Fan Guido ernsthaft: „Wenn der Trainer mir sagen würde, dass wir, um nicht abzusteigen, ein Opfer bräuchten, wäre ich dazu bereit. Ich würde von einem Hochhaus springen, das würde ich für den HSV tun...“ Natürlich kam es nie dazu. Zum Glück.