Er ist seit vier Wochen Trainer einer Mannschaft, die in dieser Saison bereits zwei Trainer verschlissen hat. Wie Mirko Slomka den abstiegsreifen HSV wieder zum Leben erweckte. Eine Analyse.

Hamburg. „Ich weiß, wo meine Stärken liegen. Aber ich muss Tag für Tag weiter trainieren und hart dranbleiben, damit ich sie auch Woche für Woche präsentieren kann.“ Mirko Slomka dürfte seine Freude an den Sätzen Hakan Calhanoglus gehabt haben. Der überragende Akteur beim 2:1 gegen Nürnberg, der sein achtes Saisontor erzielen konnte und sich zu einer Art Nichtabstiegsversicherung für den HSV entwickelt, blieb trotz seiner Gala zurückhaltend, betonte nur: „Wir waren dominanter als Nürnberg, Zweikampfstärke und Laufbereitschaft stimmten. Wir sind klar im Kopf, wollen unbedingt unten rauskommen. Und man sieht auf dem Platz, dass wir es wirklich wollen.“

Es ist schon erstaunlich: Tatsächlich scheint es dem neuen Trainer innerhalb von nur vier Wochen gelungen zu sein, eine leblose Mannschaft zumindest fit für den Abstiegskampf zu machen. Wie ist ihm das gelungen? Eine Analyse des Systems Slomka.

Der Fußballlehrer Slomka

Übertrieben formuliert scheint seine Devise zu lauten: Ich schaue mir an, was vorher gemacht wurde – und mache alles anders. Während Vorgänger van Marwijk vor allem Passspiel, Kreisspiel in verschiedenen Variationen sowie Spielformen üben ließ, sind die Einheiten unter Slomka deutlich intensiver. Sehr schnell hatte er erkannt, dass dem Team die Robustheit fehlt. Als Konsequenz ließt Slomka die Profis mehr laufen, häufiger auch über 30 Meter sprinten, was schon jetzt zu besseren Statistiken geführt hat. Legten die HSV-Spieler beim 0:3 gegen Hertha nur 8,6 Kilometer intensive Läufe (Gesamtlaufleistung 109,9 Kilometer) zurück, so waren es gegen Nürnberg 11,8 Kilometer (115,6).

Wer regelmäßig die Trainingseinheiten verfolgt hatte, den konnte das schnelle Umschaltspiel gegen Nürnberg nicht überraschen. Slomka, der im Training manchmal die Stammoffensive gegen die Stammabwehr üben lässt, ist ein Verfechter der Zehnsekundenregel: Innerhalb dieser Zeit soll seine Mannschaft nach einem Ballgewinn zum Abschluss kommen. Mit dieser Taktik hatte Slomka auch mit Hannover Erfolg. Die Spieleröffnung übernimmt dabei die Innenverteidigung.

Anders als van Marwijk, der zumeist am Rand die Übungsspiele verfolgte, steht Slomka mit seiner Trillerpfeife stets mitten im Geschehen und greift sofort ein, wenn ihm eine Aktion missfällt. So wurde er vor dem Nürnberg-Spiel mehrfach laut gegenüber Jacques Zoua und korrigierte auf dem Platz sofort dessen taktische Fehler.

Dass der HSV unter Slomka an defensiver Stabilität gewonnen hat und in vier Spielen nur drei Gegentore hinnehmen musste – zuvor waren es im Schnitt drei pro Spiel –, ist auch kein Zufall. Der neue Trainer predigt das Gegenpressing nach Ballverlust, das heißt, ein Spieler, der den Ball verloren hat, soll dem Gegner so lange hinterherjagen, bis er den Ball zurückerobert hat, das Spiel unterbrochen ist oder ihn ein Mitspieler unterstützen kann.

Mindestens genauso wichtig: Während van Marwijks Trainingsstil mit kurzen Einheiten wohl eher zu einem Topteam gepasst hätte, nimmt die junge Hamburger Mannschaft die Übungsangebote begeistert an. Sie wirkt wesentlich leistungsbereiter und -williger als noch vor einigen Wochen, die Fokussierung auf ihren Beruf scheint den Spielern deutlich besser zu gelingen.

Der Analytiker Slomka

Von Anfang an wurde klar, dass dem 46-Jährigen kein Detail zu klein ist, um es zu beachten. Wie ein Schwamm saugte er jegliche Information auf, um daraus seine Schlüsse zu ziehen, nach dem Motto: Kleine Dinge können große Sachen bewirken. Deshalb war es kein Zufall, dass es sich Slomka zur Pflicht machte, jeden Vereinsmitarbeiter kennenzulernen, und die Herkulesarbeit anging, den komplizierten HSV-Kosmos zu verstehen. Anders als van Marwijk, der stets wie auf der Durchreise gewirkt hatte, demonstrierte Slomka von Beginn an: Ich bin gekommen, um zu bleiben.

Genauso hinterfragt Slomka akribisch jeden Ablauf rund um das Team: Kann die medizinische Abteilung optimiert werden? Wie sahen die Saisonvorbereitungen aus? Und natürlich: Wie kann ich die Mannschaft stärker machen? Gezielte Videoanalysen, ob mit der Mannschaft oder individuell, gehören zum festen Programm. Mit klaren Handlungsanweisungen vermittelt er den Spielern die nötige Sicherheit, sie agieren selbstbewusster.

Der Pädagoge Slomka

Bei zwei Einheiten am Tag – in der Regel zweimal wöchentlich – legt Slomka viel Wert auf das gemeinsame Mittagessen. Mit Aktionen wie einem Boxtraining fördert er den Zusammenhalt. Genauso wichtig sind ihm aber Einzelgespräche. Auf Spieler wie Slobodan Rajkovic, Michael Mancienne, Robert Tesche oder auch Zoua, die unter der alten Führung ohne Chance waren, wirkte der Trainerwechsel erlösend, festgefahrene Strukturen lösten sich auf. Wer hätte gedacht, dass diese Spieler ihre Comebacks feiern und der früher desolate Johan Djourou so solide verteidigt?

Slomka und sein Trainerstab vermitteln dem Team das Gefühl: Wir wollen uns darum bemühen, die Stärken jedes einzelnen Spielers herauszuarbeiten und ihn an seine Leistungsgrenze heranzuführen, ihn im Idealfall besser zu machen. So ermutigte er Calhanoglu, noch häufiger die Abschlüsse aus der Distanz zu suchen. Von Zoua wird gefordert, dass er die Bälle sichert und ablegt, Dennis Diekmeier soll Tempo machen, sich nicht in Dribblings verzetteln, Rafael van der Vaart seine Technik in der Zone vor dem gegnerischen Strafraum einbringen, sich nicht die Bälle im zentralen Mittelfeld holen.

Der Motivator Slomka

Mit seiner Aussage, die Partie gegen Nürnberg sei ein „Überholspiel“, lenkte der HSV-Coach den Fokus bewusst auf dieses eine Etappenziel und weg von den möglichen negativen Konsequenzen am Ende der Saison und einer leistungshemmenden Drucksituation. Zum Ritual vor Spielen gehört in der Kabine das Bilden eines Kreises mit einer Ansprache. So lenkte Slomka vor dem Dortmund-Spiel die Gedanken an die Familien auf der Tribüne („Macht sie stolz!“).

Der „Verkäufer“ Slomka

Anders als van Marwijk, der sich wenig aus einer öffentlichen Kommunikation macht, nutzte Slomka von Anfang an die Medien, um über sie die Fans im Abstiegskampf zu mobilisieren. Bei seiner Präsentation trug er ein Kurzarm-Trikot als symbolische Nachricht: Hier gibt es einiges zu tun – und ich packe es auch an. Der erste Ertrag zeigte sich in den vergangenen drei Heimspielen, in denen der Club sieben Punkte sammelte und sich wieder die Zuneigung der Anhängerschaft verdiente. Zugleich vermeidet es Slomka aber, Werbung in eigener Sache zu betreiben. Er lehnte vorerst Einzelinterviews ab, um nicht unnötige Energien zu vergeuden und sich auf seine Kernarbeit mit der Mannschaft konzentrieren zu können.

Das Gesamtpaket Slomka

Beim Betrachten aller genannten Faktoren wird deutlich, dass Slomka unterm Strich keinesfalls als Zauberer aktiv war, sondern nur die notwendigen, einfachen Dinge angegangen ist, die bisher liegen gelassen wurden. Sein System basiert vor allem auf Arbeit, Arbeit, Arbeit. Wenn es Slomka gelingen könnte, Werte wie Einsatzbereitschaft und Siegeswillen für den Verein im Team zu implantieren, könnte der Effekt des Trainerwechsels nachhaltiger sein als bei van Marwijk, der zu Beginn seiner Tätigkeit bekanntlich auch erfolgreich startete. Und das wäre auch nötig. Denn erreicht ist noch nichts nach einer Niederlage in Bremen, einem Remis gegen Frankfurt und dem Sieg gegen Nürnberg. Nur der steile Fall wurde gestoppt.