Der HSV-Interimstrainer kehrt gegen Werder Bremen an die Seitenlinie zurück. Jetzt steht Christian Gross ganz oben auf der Nachfolgeliste.
Hamburg. Ein ambitionierter Redner war Rodolfo Esteban Cardoso noch nie. „Keine großen Worte, keine Vorträge“, beschrieb er sich unlängst selbst. Der Interimstrainer des HSV fühlt sich auf dem Fußballplatz offensichtlich wohler als vor den Mikrofonen, wo er seine Scheu trotz mittlerweile passabler Deutschkenntnisse wohl nie ganz ablegen wird. Jetzt ließ sogar seine Frau Karina via „Bild" ausrichten, dass ihr Mann auch zu Hause kaum mehr redet, sondern nur noch an Fußball denkt. Zu ein paar Sätzen ließ sich der Argentinier vor dem Nordderby gegen Werder Bremen an diesem Sonnabend (15.30 Uhr/Sky und Liveticker auf abendblatt.de) dann doch überreden. „Es ist ein besonderes Spiel, das es nur einmal im Jahr gibt. So wie die Mannschaft und die ganze Stadt freue ich mich darauf“, sagte Cardoso, der dann noch hinzufügte, dass sein Team stabiler werden müsse, um etwas Positives heraus zu bekommen.
Aber Vielredner und Lautsprecher gibt es im Umfeld des Bundesliga-Dinos ja ohnehin in ausreichender Zahl. Nur bedingt ausreichend war hingegen das, was die HSV-Profis in dieser Saison auf dem Feld abgeliefert haben. Nicht nur mangels Stabilität, auch in Sachen Kreativität und Spielfreude hielten sie sich bisher vornehm zurück – und das muss dem als Spieler früher so eleganten und technisch versierten Cardoso die Tränen in die Augen getrieben haben. So konzentrierte sich der Trainer beim Abschlusstraining nicht mehr auf das schnelle Umschalten von Angriff auf Abwehr, sondern legte Wert auf schnelle Kombinationen und Abschlüsse. Seine Startelf für das Werder-Spiel hätte er für sich selbst noch nicht festgelegt, verriet Cardoso am Freitagabend, er wolle nochmals drüber schlafen. Doch der Coach gab zu, dass Jonathan Tah nach einer überzeugenden Trainingswoche eine ernsthafte Alternative für Lasse Sobiech sein könnte.
Die Situation für den 44-Jährigen und seinen Assistenten Otto Addo, der die nötige Fußballlehrer-Lizenz besitzt, ist ohne Frage eine Herausforderung. Bei einer Niederlage gegen Werder kann sich der HSV auf einem direkten Abstiegsplatz wiederfinden. Was dann in der Stadt los wäre, will sich niemand ausmalen. Obgleich Cardoso eigentlich nur wenig zu verlieren hat, da Vereinschef Carl Jarchow eine Verlängerung seines Engagements als Bundesligacoach ja schon kategorisch ausgeschlossen hatte. Selbst im Falle zweier Erfolge gegen Bremen und drei Tage später im DFB-Pokal gegen Greuther Fürth muss Cardoso zur U23 zurückkehren.
In den Tagen nach dem Pokalspiel soll der neue HSV-Coach präsentiert werden, die Liste der möglichen Kandidaten arbeitet Sportchef Oliver Kreuzer seit Dienstag ab. Weit oben auf dieser Liste steht nach Abendblatt-Informationen neben Bert van Marwijk und Thomas Schaaf auch der Schweizer Christian Gross, den Kreuzer aus gemeinsamen Tagen beim FC Basel kennt. Gross wurde Ende April 2012 bei Young Boys Bern freigestellt, ist seitdem arbeitslos. Auch der Niederländer Fred Rutten, ehemals Schalke 04, soll im Fokus des Sportchefs stehen. Slaven Bilic, der schon auf dem Hamburger Flughafen gesehen worden sein soll, dürfte hingegen keine Rolle spielen.
An diesem Sonnabend gegen Werder liegt es jedoch an Cardoso, die Profis, die noch viel stärker in der Schusslinie stehen als der Coach, wieder auf die Spur zu bringen. „Die Spieler müssen den Druck vergessen. Wenn du beim HSV bist, hast du den immer“, versucht Cardoso zu beschwichtigen. Und der Nachwuchs-Trainer, der seine Laufbahn als Übungsleiter bei der HSV-B-Jugend begann, hat vor nicht allzu langer Zeit bewiesen, dass er einem verunsicherten Bundesliga-Team ad hoc helfen kann. Im September 2011 übernahm Cardoso als Nachfolger von Michael Oenning bereits einmal übergangsweise das Zepter beim HSV und siegte zum Einstand mit 2:1 beim VfB Stuttgart. Damals waren die Hamburger Tabellenletzter. Das vorher völlig leblos wirkende Team hatte plötzlich wieder Mumm und Leidenschaft gezeigt. Mit Mladen Petric, dem von Cardoso zu den Profis beförderten Zhi Gin Lam, Gökhan Töre und Heung Min Son ließ Cardoso auswärts vier Offensiv-Spieler auflaufen, Oenning zuvor bei seiner letzten Niederlage zu Hause gegen Mönchengladbach nur einen. „Es war wichtig, den Gegner zu beschäftigen. Wir müssen nicht auf den Gegner warten. Wir müssen selbst was machen. So kriegt man Respekt“, sagte Cardoso damals.
Auch wenn er in dieser Woche den Fokus verbal auf das Defensivverhalten legte – Cardoso liebt das risikoreiche Spiel. Damit hat er schon vor zwei Jahren nachhaltigen Eindruck hinterlassen. „Wir hatten unseren Mut zurück, jeder wollte den Ball haben. Das war auch Cardoso zu verdanken“, erinnert sich Westermann.
Ein selbstbewusster Auftritt könnte beim ebenfalls angeschlagenen Gegner für weitere Verunsicherung sorgen. In Bremen sitzt Robin Dutt zwar (noch) fest im Sattel, doch nach den ersten beiden knappen 1:0-Erfolgen gab der Rivale von der Weser bei drei Niederlagen in Serie kein gutes Bild mehr ab. Für Sportchef Thomas Eichin ist das zu viel Schwarzmalerei. „Den Ist-Zustand zu analysieren, das ist in Ordnung. Aber diese Endzeit-Stimmung passt einfach nicht nach fünf Spieltagen.“
Doch sollte sich am Sonnabend ein Sieger finden, wird es auch einen Verlierer geben – und bei diesem wäre Endzeit-Stimmung garantiert.