Ein reiferes Team verabschiedet beim 2:1 gegen die Niederlande den Hurra-Fußball. Viertelfinale aber noch nicht erreicht. Torjäger Mario Gomez glänzt mit Doppelpack. Der Bundestrainer lobte aber auch Bastian Schweinsteiger.
Charkiw. Es war ein großer Sieg für die Geschichtsbücher des Fußballs, aber die speziellen Details kannten die deutschen Nationalspieler nicht. Nach dem 2:1 (2:0) gegen die Niederlande ging im Jubel in der Umkleidekabine des Stadions in Charkiw der Irrglaube um, die Teilnahme am Viertelfinale der Europameisterschaft wäre schon gesichert. „Wir wollten unbedingt den zweiten Schritt machen. Es war wichtig nachzulegen. Das Tor zum Viertelfinale ist jetzt weit aufgestoßen. Wir haben es selbst in der Hand, alles klar zu machen. Der Gruppensieg wäre wichtig, weil wir dann in Danzig bleiben können. Das wäre wahrscheinlich ein Vorteil im Viertelfinale. Aber wir brauchen erst noch einen Punkt gegen die Dänen", belehrte Bundestrainer Joachim Löw jedoch seine siegtrunkenen Männer. Die waren verblüfft, sie wollten es zuerst kaum glauben. Zwei Spiele, zwei Siege – das hatte es doch unter ihrem Chef Löw weder bei der EM 2008 noch bei der WM 2010 gegeben.
Dank der drei Tore von Mario Gomez, der mit einem herrlichen Doppelpack gegen den Vize-Weltmeister nach seinem Goldenen Treffer zum 1:0 gegen Portugal auftrumpfte, führt die Auswahl des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) die Tabelle in der Gruppe B an und steht dennoch noch nicht in der nächsten Runde. Da wenige Stunden zuvor Portugal gegen Dänemark mit 3:2 gewonnen hatte, muss zur Sicherheit ein Unentschieden im dritten und letzten Vorrundenspiel her. Gewinnt Portugal am Sonntag gegen die Niederlande, dann würde sogar ein 0:1 gegen Dänemark dazu führen, dass die Deutschen ausscheiden. Verrückte Fußball-Welt.
Aber in ihr spielt dieses deutsche Team wieder eine Spitzenrolle. Mats Hummels verglich die erwartungsvolle Lage und die Atmosphäre mit der Weltmeisterschaft 2006. „Das war eine großartige Zeit“, sagte der Dortmunder Verteidiger, der damals als 17-Jähriger mitfieberte. „Ich denke, dass es den Leuten zu gönnen ist, dass sie noch mehr Siege feiern können“, sagte er, als er von der großartigen Stimmung hörte, die die Mannschaft wieder in der Heimat auslöst. „Aber bisher haben wir noch nichts gewonnen. Wir wollen aber dafür sorgen, dass sie auf jeden Fall noch länger eine gute Zeit haben können.“ Gegen die Dänen soll am Sonntag (20.45 Uhr) in Lwiw die nächste Begeisterungswelle freigesetzt werden. Aber in Charkiw, nachdem die Holländer erstmals seit 1980 bei einer EM geschlagen wurden, fand das Team schnell auf den Teppich zurück.
„Es ist gut, ins Spiel zu gehen mit dem Wissen, dass ein Punkt reicht, um als Erster aus der Gruppe zu gehen“, sagte Hummels. Der Vollzug der Viertelfinal-Qualifikation, um dann endlich einmal vor der Haustüre des Basisquartiers in Danzig zu spielen, ohne lange Anreise, soll perfekt gemacht werden. Die Erfolgself muss dabei verändert. Jerome Boateng ist nach zwei Gelben Karten gesperrt. Als Alternative könnte Löw den Leverkusener Lars Bender wählen. „So viele Möglichkeiten gibt es ja nicht. Philipp Lahm könnte nach rechts, dafür Marcel Schmelzer links spielen. Oder Lars Bender spielt rechts. Auch eine Dreierkette und eine andere offensive Anordnung wäre möglich, weil Dänemark sehr defensiv spielt. Mal sehen“, sagte Löw.
Im Viertelfinale könnte Boateng dann wieder dabei sein. Polen ist einer der möglichen Gegner, danach stünde das Halbfinale in Warschau auf dem Programm, aber das ist Löw und seiner Truppe alles viel zu weit gedacht. Sachlichkeit und Nüchternheit gehört zur deutschen Nationalelf des Jahres 2012. Löw trimmt seine Spieler auf mehr Realismus. Auf dem Spielplatz geschieht eine Abkehr vom Hurra-Fußball der WM 2010. Die DFB-Elf scheint erwachsen zu werden. „Das Wichtigste ist es erst einmal, Ergebnisse zu erzielen. Das haben wir zweimal geschafft“, sagte Philipp Lahm. Hummels erläuterte die taktischen Konsequenzen des langsamen Wandels. „Da ist nicht mehr der ganz große Zug zum Tor, mit etwas weniger Leuten in der Offensive und weniger in der Defensive, sondern es ist noch bedachter.“ Am Beispiel von Bastian Schweinsteiger ist die Veränderung gut zu besichtigen.
Der 27-Jährige spielte gegen die Niederländer großartig auf, in einer leicht anders gelagerten Rolle als bei der WM, weil Sami Khedira ihm viel mehr abnimmt als vor zwei Jahren. Schweinsteiger ist nach dem Krafttraining im Anschluss an seine Verletzungen kompakter geworden, vielleicht noch etwas weniger spritzig, aber eben ein ausgezeichneter Fußballer mit großartigen technischen Fähigkeiten und taktischem Handlungsvermögen. „Seine Präsenz auf dem Platz ist extrem hoch“, lobte ihn Löw und sprach von „Bastis phantastischen Pässen“, mit denen er – wie im Training geplant - Gomez vor den Toren bediente. „Ich glaube, dass er schon noch ein bisschen Steigerungspotenzial hat“, sagte Löw aber auch.
Von seinen Offensivspielern Mesut Özil und Thomas Müller erwartet Löw noch eine Steigerung: „Mesut macht unglaublich viele Wege. Seine Läufe haben eine hohe Intensität. Er bietet sich viel an. Auch wenn einige Aktionen etwas unglücklich waren, spielt er gut. Wir werden ihn in den nächsten Spielen in Weltklasseform sehen.“ Und auch mit Müller und Podolski war der Bundestrainer nicht unzufrieden. „Beide haben wahnsinning gut nach hinten gearbeitet. Poldi war defensiv sehr stabil. Offensiv hätte das eine oder andere besser laufen können. Es würde ihnen gut tun, wenn sie ein Tor machen.“
Alle will er noch mehr anstacheln. „Es war ein wahnsinnig intensives, sehr enges Spiel. Bei extremen Temperaturen war es schwierig“, erklärte Löw, rügte seine Leute aber dafür, dass sie die Niederländer mit dem Tor von Robin van Persie zum 1:2 noch einmal herankommen ließen. Das Entscheidende war letztlich, dass sie einen Mann der Extraklasse in ihren Reihen hatten. Vier Tage vorher noch als Ersatzmann betrachtet, übel gerügt von Mehmet Scholl trotz des Tors gegen Portugal, schob sich Gomez in den Fokus. „Mario ist ein Weltklassestürmer. Das hat er wieder mit zwei Weltklassetoren bewiesen“, sagte Lahm und auch Löw pries seinen neuen Sturm-Helden.
Der Bundestrainer plant nun den nächsten Streich gegen die Dänen. „In der so genannten Todesgruppe, in der Group of Death, haben wir sechs Punkte gegen zwei starke Mannschaften geholt“. Denn nicht alles, was die Deutschen anstellten, gelang: „Natürlich hätten wir einige Angriffe besser zum Abschluss bringen können. Wir hätten den Sack früher zumachen müssen. So ist es nach dem Anschlusstor noch einmal spannend geworden. Aber wir sind trotzdem klar der verdiente Sieger.“
Deutschland: Neuer - Boateng, Hummels, Badstuber, Lahm - Schweinsteiger, Khedira - Müller (90.+2 L. Bender), Özil (81. Kroos), Podolski - Gomez (72. Klose). Niederlande: Stekelenburg - van der Weil, Heitinga, Mathijsen, Willems - van Bommel (46. van der Vaart), de Jong - Robben (83. Kuyt), Sneijder, Afellay (46. Huntelaar) - van Persie. Tore: 1:0 Gomez (24.), 2:0 Gomez (38.), 2:1 van Persie (73.). Schiedsrichter: Jonas Eriksson (Schweden). Zuschauer: 37 750. Gelb: Boateng (2) - de Jong, Willems.
Mit Material von dapd