BVB-Profi den Tränen nah: „Werde Gesichter nie vergessen“
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Haftbefehl gegen Islamisten. Was für und gegen die Echtheit des Bekennerbriefs spricht. BVB-Akteure kritisieren schnelle Neuansetzung.
Dortmund. „Die Mannschaft steht unter Schockstarre“, hatte der Geschäftsführer von Borussia Dortmund, Hans-Joachim Watzke, im Vorfeld des Nachholspiels seines Vereins gegen den AS Monaco im Viertelfinale der Champions League angekündigt. Wie es sich mit so einer Schockstarre Fußball spielen lässt, konnten die Zuschauer vor allem in der ersten Halbzeit bei der 2:3-Niederlage des BVB sehen.
Vor nahezu gespenstischer Atmosphäre aufgrund der ebenfalls noch unter Schock stehenden Zuschauer ging eine sichtlich verunsicherte Mannschaft mit hängenden Köpfen nach einem 0:2 zur Pause in die Kabine. Erst im zweiten Durchgang wachten Mannschaft und Fans auf und trotzten dem Terror, den Ereignissen des Vortages, als der Mannschaftsbus mit drei Sprengsätzen attackiert wurde.
Sahin gibt bewegendes Interview
Dass dieser Angriff, bei dem sich BVB-Verteidiger Marc Bartra schwer an der Hand verletzte, nicht spurlos an den Dortmunder vorbeiging, gaben die Protagonisten auch nach dem Spiel zu Protokoll. Vor allem das englischsprachige Interview des eingewechselten Nuri Sahin war bewegend.
„Ich saß im Bus neben Marc, Schmelle (Kapitän Marcel Schmelzer, Anm. der Red.) war auch in der Nähe. Ich werde die Gesichter, von allem das von Schmelle, in meinem Leben nie vergessen“, sagte der türkische Mittelfeldspieler und war dabei den Tränen nah. „Wir lieben diese Sportart, wir verdienen eine Menge Geld damit und haben ein privilegiertes Leben, aber es gibt so viel Wichtigeres als Fußball.“ Wenig später legte Sahin im ZDF nach und übte leise Kritik an der schnellen Neuansetzung der Partie: „Aus menschlicher Sicht war es nicht okay, heute zu spielen. Aber wir akzeptieren, dass es ein Wettbewerb ist.“
Tuchel: Uefa hat uns übergangen
Noch deutlicher formulierte Abwehrchef Sokratis seinen Vorwurf an der für den Spielbetrieb verantwortlichen Europäischen Fußball-Union (Uefa). „Die Uefa muss verstehen, dass wir keine Tiere sind. Wer das nicht durchgemacht hat, weiß nicht, wie schlimm es für uns war“, sagte der Grieche ähnlich emotional wie Mitspieler Sahin. „Wir sind froh, dass wir noch leben. Es gab in meinem Kopf keinen Raum für dieses Spiel.“
BVB-Trainer Thomas Tuchel stand hinter der Meinung seiner Spieler und rechnete ebenfalls mit dem Fußball-Verband ab. „Wir haben das als sehr ohnmächtig empfunden. Wir stehen noch am Bus, Bartra wird weggefahren, und du wirst per SMS darüber informiert, was die Uefa in Nyon entschieden hat. Das hat sich sehr bescheiden angefühlt“, klagte der Coach an. „Es geht um unseren Champions-League-Traum. Da fühlten wir uns übergangen. Wir wurden behandelt, als ob eine Bierdose an unseren Bus geflogen wäre.“
Die Uefa widerlegte die Version Tuchels allerdings umgehend und erinnerte daran, dass Verantwortliche von Borussia Dortmund ebenfalls an dem Gespräch, das vor Ort stattfand, teilgenommen hatten, in dem über den Nachholtermin entschieden wurde. „Die Uefa hat niemals eine Information erhalten, die angedeutet hat, dass eines der Teams nicht spielen wollte“, teilte der Kontinentalverband auf Anfrage mit. Watzke bezeichnete den Nachholtermin als "alternativlos".
BVB verliert nach dem Anschlag gegen Monaco
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Tuchel widerspricht BVB-Präsidenten
Dass die Neuansetzung der Partie aus psychologischer Sicht deutlich zu früh terminiert wurde, war für alle Zuschauer sichtbar. „Wir hatten das Gefühl, dass wir unseren üblichen Fokus hatten“, erklärte Tuchel den spielerisch in der ersten Halbzeit mauen Auftritt seiner Mannschaft. „Ich hätte mir etwas mehr Zeit gewünscht, die Dinge zu verarbeiten.“
Club-Präsident Reinhard Rauball appellierte vor dem Spiel an das Team und die einzelnen Akteure. Sie seien Profis und mögen dem Terror trotzen. Dem widersprach Tuchel. „Ich finde, es reicht auch nicht, zu sagen, wir seien Profis. Wir sind Profis als Sportler, aber gestern mussten wir Erfahrungen als Menschen machen.“ Der BVB hat seinen Spieler psychologische Hilfe angeboten.
Haftbefehl gegen Iraker Islamisten
Währenddessen suchen Ermittler auch am Donnerstag weiter nach Erklärungen und Hintergründe für den Anschlag auf den BVB-Bus, bei dem drei Sprengsätze mit Metallstiften explodiert sind. Ein Metallstift bohrte sich in die Kopfstütze eines der Sitze im Mannschaftsbus. Die Wirkung des Sprengstoffs liegt bei mehr als 100 Metern. Der Generalbundesanwalt in Karlsruhe geht von einem terroristisch motivierten Anschlag aus und hält auch einen islamistischen Bezug für wahrscheinlich.
Nach jetzigem Ermittlungsstand gibt es zwei Verdächtige aus der islamistischen Szene, deren Wohnungen durchsucht wurden. Der Iraker Abdul Beset A. aus Wuppertal wurde vorläufig festgenommen. Gegen den Mann ist am Donnerstagvormittag Haftbefehl wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in der terroristischen Vereinigung IS beantragt worden. Die bisherigen Untersuchungen hätten allerdings keine Belege für die Beteiligung des 26-Jährigen an dem Anschlag ergeben. Bei dem zweiten Tatverdächtigen handelt es sich um einen 28-jährigen Deutschen aus Fröndenberg im Kreis Unna.
Internationale Pressestimmen zum BVB-Anschlag
FRANKREICH
„L’Équipe“: „Wie soll man von diesem deutschen Team und diesen Spielern verlangen, 24 Stunden danach einsatzfähig zu sein, als ob nichts wäre und im Vollbesitz ihrer Fähigkeiten? Niemand weiß, wie sie reagieren werden und in welche Richtung die emotionale Überlastung sie tragen wird (...).“
„Le Figaro“: „Schwarze Stunden, die den Anschlag am Stade de France am 13. November 2015 in Erinnerung rufen, während des Spiels zwischen Frankreich und Deutschland.“
„Le Parisien“: „Für mehrere deutsche Spieler ist der Terrorismus bereits eine Realität. Die Nationalmannschaft war sehr mitgenommen von ihrer Nacht im Herzen des Stade de France nach dem Freundschaftsspiel gegen Frankreich, das am 13. November 2015 von den Explosionen der drei Selbstmordattentäter gezeichnet wurde – Beginn einer Anschlagsserie in Paris (130 Tote).“
GROSSBRITANNIEN
„BBC Sport“: „An einem verstörenden Abend hat Borussia Dortmund seine Klasse gezeigt. Der Club befand sich im Schockzustand, nachdem vor dem Spiel gegen Monaco drei Explosionen den Mannschaftsbus beschädigt haben. (...) Doch mit dem Hashtag #bedforawayfans boten die Dortmund-Fans den Monaco-Anhängern Übernachtungsmöglichkeiten an. Was für eine fantastische Geste an einem besorgniserregenden Abend.“
„The Telegraph“: „Die Fans von Borussia Dortmund haben am Dienstag einmal mehr ihre Klasse bewiesen, indem sie den Monaco-Anhängern, die wegen der Spielverlegung gestrandet waren, eine Unterkunft für die Nacht angeboten haben.“
„The Guardian“: „Die Fans zeigen Zusammenhalt, nachdem der Dortmund-Bus von Explosionen getroffen wurde.“
ITALIEN
„Corriere della Sera“: „Die Angst vor Terroranschlägen hat nun auch die Champions League erreicht. (...) Die ganze Mannschaft von Borussia Dortmund steht unter Schock. Die Sorge vor einem Angriff von Terroristen hat sich lange in den Köpfen der Menschen festgesetzt, und auch Fußballer wissen, dass sie potenzielle Angriffsziele von denen werden können, die das normale Leben des Westens zerstören wollen. (...) Zu sagen, dass Deutschland aus Angst vor dem Terror in einem alptraumartigen Zustand ist, wäre übertrieben. In dem Land geht das normale Leben weiter. Die Gedanken an eine erhöhte Gefahr existieren nach den Attentaten der vergangenen Monate, aber die Bevölkerung reagiert meist bestmöglich.“
„La Repubblica“ (online): „Ein Schreiben am Ort der Explosion verweist auf das deutsche Engagement gegen den IS, aber die Ermittler könnten das für Irreführung halten. Eine alternative These deutet auf extremistische Kreise unter den Fans hin – jene, gegen die sich der Club und sein Präsident seit längerem stellen.“
SPANIEN
„Mundo Deportivo“: „Angriff auf den Fußball. Die Attacke ist ebenso unverständlich wie vorerst noch rätselhaft.“
„El Mundo“: „Die Panik greift auf die Champions League über. Es wurden Erinnerungen wach an andere tragische Zwischenfälle bei oder am Rande von Fußball-Spielen, wie etwa die Pariser Terrornacht von November 2015.“
„AS“: „Noch Stunden nach dem Zwischenfall war die Polizei in Dortmund verwirrt. Es gab kein Kommuniqué zu den Ursachen. Islamischer Staat? Ultras? Ein Unfall? Die beunruhigende Verzögerung deutet auf eine geringe Fähigkeit der Polizei hin. Die Mannschaftsbusse werden ja eskortiert, die Polizei konnte deshalb die Ermittlungen sofort aufnehmen.“
„Sport“: „Attacke auf Dortmund! Nach Bekanntwerden der Explosionen machte sich Konfusion breit.“
„La Vanguardia“: „Explosionen gegen den Fußball. Der Angriff hat Deutschland erschüttert.“
„Marca“: „Angriff auf die Champions League.“
ÖSTERREICH
„Kronen Zeitung“: „Anschlag auf die Fußballwelt“
„Die Presse“: „Es sollte ein Fußballfest werden am Dienstagabend in Dortmund. Doch stattdessen herrschte Ausnahmezustand.“
„Kurier“: „Fußballwelt in Schockstarre“
„Heute“: „Schock-Nacht für den Fußball“
SCHWEIZ:
„Neue Zürcher Zeitung“: „Nach der Terrorattacke auf den Berliner Weihnachtsmarkt letzten Dezember weiss Deutschland, dass die Gefahr real ist, aber sie lähmt nicht. Nirgendwo in Dortmund brach Panik aus.“
GRIECHENLAND:
„Goalanews“: „Sie wollten Tote haben. Sokratis: Wir sind beängstigt und schockiert“
„Sportday“: „Angst, Verbitterung, Ratlosigkeit“
„To Fos“: „Schock! Drei Explosionen neben dem Dortmund Bus. Sokratis: Wir haben Angst“.
IRLAND
„The Irish Independent“: „Fußball, und Sport im Allgemeinen, ist zu einem Ziel geworden. Das muss jetzt bei jedem öffentlichen Ereignis berücksichtigt werden.“
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Bekennerschreiben: Prominente auf Todesliste
In Tatortnähe sind drei textgleiche islamistisch angehauchte Bekennerschreiben aufgetaucht, die von den Ermittlern ernst genommen werden. Es beginnt mit: „Im Namen Allahs, des Gnädigen, des Barmherzigen“ – eine Einleitung, die typisch für Islamisten ist. Dann heißt es weiter: „12 ungläubige würden von unseren Gesegneten Brüder in Deutschland getötet“. Dies ist offensichtlich eine Referenz auf den Anschlag von Anis Amri in Berlin im Dezember, zwölf Menschen starben.
Danach attackieren der oder die Verfasser die Kanzlerin direkt: „Aber anscheinend scherst du dich Merkel nicht um deinen kleinen dreckigen Untertanen“ – auch hier mit mehreren Sprachfehlern. Und weiter: „Deine Tornados fliegen immer noch über dem Boden des Kalifats, um Muslime zu Ermorden.“ Danach folgt eine radikale Ankündigung, in der die Autoren „ungläubigen Schauspieler, Sänger, Sportler“ und „Prominenten“ mit dem Tod drohen.
Ihre Forderungen: Die Bundesregierung solle die deutschen Tornados abziehen, die in der Türkei im Rahmen ihrer Aufklärung im Syrien-Krieg stationiert sind. Und die Autoren verlangen die Schließung des amerikanischen Militärflugplatzes Ramstein in Rheinland-Pfalz. Einen Absender oder ein Symbol einer Terrororganisation ist auf dem Bekennerschreiben nicht vermerkt. Der Brief sei für islamistische Texte untypisch.
Ist das Bekennerschreiben echt?
Typisch sind die Huldigungen „Allahs“ und der Missbrauch des Islams als Legitimation für Gewalt. Das spricht für Islamisten. Doch die Wortwahl wirkt wenig professionell – eher amateurhaft. Der Inhalt attackiert sowohl die „Ungläubigen“, aber auch Kanzlerin Merkel direkt. Das Schreiben hat einen starken Deutschland-Bezug. Zumindest für den IS ist ungewöhnlich, dass er die Schließung der US-Airbase „Ramstein“ fordert. Bekanntes Muster ist eher die Forderungen nach einem Abzug der deutschen Tornados aus dem Kriegsgebiet in Syrien. Für die Ermittler wäre dieses Bekennerschreiben ein wichtiger Baustein bei der Suche nach den Tätern. Sofern es keine Fälschung ist.
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