Bordeaux/Hamburg. ARD-Experte redet sich wegen Löws veränderter Taktik gegen Italien in Rage. Dabei bekam ein früherer HSV-Wunschkandidat sein Fett weg.
TV-Experte Mehmet Scholl hat sich nach dem deutschen EM-Halbfinalsieg gegen Italien in Rage geredet und besonders die Gilde der Scouts und Taktik-Einflüsterer kritisiert. Chefscout Urs Siegenthaler "möge bitte seinen Job machen, morgens liegenbleiben, die anderen zum Training gehen lassen und nicht mit irgendwelchen Ideen kommen", schimpfte der langjährige Nationalspieler in der ARD nach dem deutschen Sieg im Elfmeterschießen gegen Italien. Bundestrainer Joachim Löw war für das Spiel von seiner bisherigen Erfolgstaktik abgewichen.
"Ich weiß nicht, ob es nur Siegenthaler ist, aber Jogi Löw wacht nicht nachts auf und sagt: 'Dreierkette, Dreierkette, Dreierkette'", sagte Scholl, dessen einzige Trainerstation Bayern München II war: "Das hätte man auch anders lösen können."
Siegenthaler war Ende 2004 vom damaligen Bundestrainer Jürgen Klinsmann als Spielbeobachter zum DFB geholt worden. Im August 2010 hatte der Schweizer Ex-Profi eigentlich schon dem HSV als sportlicher leiter zugesagt. Doch ein Engagement an der Elbe scheiterte auch eine einem Veto des Verbands, der Siegenthaler eine Doppelfunktion versagte.
Scholl nervt die stete Anpassung
Eine funktionierende Mannschaft sei durch die plötzliche Umstellung auf eine Dreierkette aus dem Gleichgewicht gebracht worden, urteilte Scholl. "Warum bringt man eine Mannschaft, die so funktioniert, in so eine Situation?", fragte Scholl und nannte Beispiele: "2008: angepasst und gegen Spanien verloren. 2010: angepasst an die Spanier – rausgeflogen. 2012 angepasst an die Italiener – rausgeflogen. Und jetzt kommt der Clou: 2014 hat Löw der Mannschaft vertraut und ab dem Viertelfinale mit der gleichen Aufstellung gespielt. So gewinnt man Titel."
Später nahm Scholl nochmals Bezug auf die Taktik. "Warum sind wir Weltmeister geworden? Weil wir die schwachsinnigste Idee aller Zeiten, mit vier Innenverteidigern zu spielen, über Bord geworfen haben! Weil wir ein Gebilde hatten, das durchgelaufen ist", sagte der 45-Jährige. "Jetzt haben wir wieder ein Gebilde und müssen dabei bleiben", sagte der frühere Nationalspieler, der vor einigen Monaten schon einmal seine Ablehnung gegen "Laptop-Trainer" kundgetan hatte.
Vor vier Jahren hatte Scholl schon mit einem sehr persönlichen Angriff gegen Stürmer Mario Gomez ("Hatte Angst, dass er sich wundliegt") Aufsehen erregt. Später entschuldigte er sich dafür.
Löw rechtfertigt seine Taktik
Löw hatte gegen die Italiener Benedikt Höwedes als dritten Innenverteidiger aufgeboten und dafür den zuvor starken Mittelfeldspieler Julian Draxler "geopfert". Bei gegnerischem Ballbesitz spielten die Weltmeister am Sonnabend stattdessen mit einer Fünferkette in der Abwehr.
Für Löw war die Dreierkette gegen Italien indes seit Tagen logisch. „Es war dringend notwendig, auch die Mannschaft ein bisschen zu verändern“, sagte Löw am frühen Sonntag. "Für mich war das nach dem Spiel Italien gegen Spanien klar. Da war das mein erster Gedanke“, ergänzte der Bundestrainer.
Die Abkehr vom zuvor praktizierten 4-2-3-1-System begründete der Bundestrainer mit der anderen Qualität des viermaligen Weltmeisters Italien im Vergleich zu den bisherigen Gegnern. „Sie spielen mit zwei Mann auf den Seiten ganz hoch und mit zwei zentralen Stürmern. Vier gegen vier zu spielen, ist gegen sie gefährlich. Ihre Automatismen spielen sie super, aber sie sind leicht berechenbar. Deswegen mussten wir das Zentrum zumachen“, erläuterte Löw.
Opdenhövel muss Scholl beruhigen
"Ich glaube, dass wir Europameister werden können, wenn wir unseren Stil durchdrücken können", betonte Scholl, dem bei seinem nachdrücklichen Appell schier die Augen aus dem Gesicht traten. Am Ende der Schollschen Schimpftirade sah sich sogar ARD-Moderator Matthias Odpenhövel genötigt, seinen Experten zu besänftigen. "Beruhige dich wieder", gab er Scholl zur Verabschiedung auf den Weg.