Bordeaux. Jonas Hector sorgt in verrücktem Elfmeterschießen für den historischen Sieg. Gewonnen hat aber auch der Spürsinn von Joachim Löw.
Als der Ball am Sonnabend um genau 23.49 Uhr unter den Armen von Gianluigi Buffon hindurch ins Netz kurvte und Deutschland damit im EM-Halbfinale stand, ballte Jonas Hector vor Freude die Fäuste. Alle seine Mitspieler rannten auf den Linksverteidiger zu. Hector hatte in einem denkwürdigen Elfmeterschießen mit insgesamt sieben Fehlschützen den entscheidenden Ball zum 6:5 im Elfmeterschießen gegen Italien (1:1/0:0) ins Tor geschossen. Deutschland schlägt damit den Angstgegner zum ersten Mal bei einem Turnier und steht am Donnerstag in Marseille im EM-Halbfinale gegen Frankreich oder Island.
Bundestrainer Joachim Löw sagte: "Natürlich bin ich jetzt glücklich, unabhängig vom Gegner, denn das ist natürlich ein tolles Gefühl. Das Turnier ist noch nicht zu Ende, es geht noch weiter. Heute haben ja gerade die Youngster die entscheidenden Elfmeter verwandelt." Das war auch bezogen auf Jonas Hector und Joshua Kimmich. Löw sagte weiter: Man muss die Italiener mit den eigenen Mitteln schlagen und manchmal auch mit Intelligenz."
Manuel Neuer hatte den Elfmeter von Matteo Darmian pariert. Das war die Chance für den Kölner Hector. Er nutzte sie, und Deutschland steht zum sechsten Mal hintereinander bei einem Turnier in der Runde der letzten vier.
Durch die Tore von Mesut Özil (65. Minute) und Leonardo Bonucci (78.) stand es nach 120 Minuten 1:1. Dann kam Hector. Seit der EM 1976, als Uli Hoeneß einen Ball im Finale gegen die Tschechoslowakei in den Belgrader Nachthimmel drosch, hat Deutschland bei einem Turnier kein Elfmeterschießen mehr verloren.
Podolski twittert Foto mit Hector aus der Kabine
Löw überraschte die Italiener mit Dreierkette
Vor dem Anpfiff wurden auf der Pressetribüne beim Blick auf die Aufstellung viele Köpfe geschüttelt: Wie beim EM-Halbfinal-Aus 2012 gegen Italien veränderte Löw seine bisher erfolgreiche Mannschaft und wählte eine taktische Variante, die er zuvor im Turnier kein einziges Mal hatte spielen lassen: Julian Draxler, im Achtelfinale gegen die Slowakei (3:0) vor einer Woche noch der auffälligste Spieler (ein Tor, eine Vorlage), nahm der Bundestrainer aus der Startelf. Für Draxler kam Verteidiger Benedikt Höwedes in die Mannschaft. Das hatte zur Folge, dass Löw auf eine Dreier-Abwehrkette umstellte – und das, obwohl zuvor mit der Viererkette vier Spiele lang im Turnier kein einziges Gegentor kassiert wurde.
Die Taktik veränderte Löw auch 2012: Toni Kroos sollte damals Andrea Pirlo bewachen. Die Sache ging schief. Was war das diesmal? Mut, oder Unbelehrbarkeit? Wenn diese erneute Rochade schief gegangen wäre, man hätte sie Löw vorgehalten, weil sie wie vor vier Jahren mächtig danach roch, dass sich hier ein Team mit dem Anspruch auf den Titel zu sehr dem Gegner anpasste. Dabei war der Plan anders als 2012 nicht in ein paar Tagen entstanden.
Frühe Muskelverletzung bei Khedira
Löw hatte diese Variante lange entwickelt: Seit dem WM-Triumph von Rio 2014 ließ der 56-Jährige mehrfach die Dreierkette spielen: mal mit Erfolg wie beim Testspielsieg gegen Italien im März (4:1), mal ging es daneben wie gegen die Slowakei kurz vor der EM (1:3). Nun sollte sie erstmals in einem K.o.-Spiel zum Einsatz kommen. Am Ende ging die Sache auf.
Mesut Özil jubelt bei Twitter
Doch Löw musste seinen Matchplan früh modifizieren: Sami Khedira griff sich schon nach zwölf Minuten an den Oberschenkel. Muskelverletzung. Für ihn kam Kapitän Bastian Schweinsteiger. Khedira ging und mit ihm entwich die Dynamik aus dem deutschen Spiel.
Den ultradefensiven Italienern gelang es in der ersten Halbzeit, dem DFB-Team das Tempo zu nehmen. 40 Minuten lang gab es weder einen einzigen, guten Angriff, noch einen Torschuss von Löws Elf. Dann probierte es erst Mario Gomez per Kopf (41.), danach Thomas Müller (42.). Ohne Erfolg. Und hätte Jerome Boateng im Gegenzug nicht seinen Fuß in den strammen Schuss von Stefano Sturaro gestellt, Deutschland wäre mit 0:1 in die Halbzeitpause gegangen. Müller hatte auch nach dem Seitenwechsel die große Chance, als endlich einmal schnell gespielt wurde und der Münchner es aus 15 Metern probierte, aber Alessandro Florenzi kratzte den Ball mit einer spektakulären Flugeinlage von der Linie (53.).
Mesut Özil brachte die deutsche Mannschaft in Führung
Es sollte der Beginn einer fulminanten Schlussphase werden. Erst brachte Özil die deutsche Elf in Führung: Gomez hatte den Angriff klug eingeleitet, Jonas Hector sich endlich mal auf der Grundlinie durchgesetzt, seinen Rückpass drückte Özil zum 1:0 (65.) über die Linie. Und hätte Gomez die feine Vorlage von Özil kurz darauf verwertet, es wäre wohl die Entscheidung gewesen. Aber Gianluigi Buffon parierte (68.), und Italien schlug zurück: Boateng, der zuvor so stark gespielt hatte in diesem Turnier, ging im Strafraum wie beim Volleyballblock in ein Kopfballduell – mit beidenen Händen weit über dem Kopf. Der Ball sprang ihm an den Arm: Elfmeter entschied Schiedsrichter Victor Kassai zurecht.
Leonardo Bonucci glich aus (78.). Er sagte nach dem Spiel: "Wir sind stolz auf unsere Leistung, weil wir dem Weltmeister Deutschland standgehalten haben. Natürlich schmerzt uns die Niederlage. Applaus für Conte, der eine tolle Mannschaft aufgebaut hat. Ich bin stolz, Mitglied dieses Team zu sein. Wir danken den italienischen Tifosi für ihren Enthusiasmus."
Das Team von Trainer Antonio Conte, das bis dahin kaum zu Möglichkeiten kam, war plötzlich wieder im Spiel. Es gab Verlängerung. Da hatte der eingewechselte Draxler noch die Möglichkeit, doch sein Schuss ging drüber (107.). Elfmeterschießen. Dann kam Hector. Einziger Wermutstropfen: Mats Hummels wird im Halbfinale fehlen. Der Verteidiger sah nach einem Foul kurz vor Ende der 90 Minuten seine zweite Gelbe Karte im Turnier und wird gesperrt.
Boateng sagte zum Elfmeterschießen und zu seinen anhaltenden Wadenproblemen: "Das Elfmeterschießen ist natürlich eine Lotterie. Wir hatten Manu im Tor, das ist natürlich ein riesiger Vorteil. Meine Wade hat wieder zugemacht. Man muss sich aber für das Halbfinale keine Sorgen machen.“
Deutschland vs. Italien – die Statistik
Deutschland: Neuer/Bayern München (30 Jahre/70 Länderspiele) - Höwedes/Schalke 04 (28/39), Boateng/Bayern München (27/64), Hummels/Borussia Dortmund (27/50) - Kimmich/Bayern München (21/4), Khedira/Juventus Turin (29/65) ab 16. Schweinsteiger/Manchester United (31/119), Hector/1. FC Köln (26/19) - Müller/Bayern München (26/76), 18 Kroos/Real Madrid (26/70), 8 Özil/FC Arsenal (27/78) - Gomez/Besiktas Istanbul (30/68) ab 72. Draxler/VfL Wolfsburg (22/23). Trainer: Löw
Italien: Buffon/Juventus Turin (38 Jahre/160 Länderspiele) - Barzagli/Juventus Turin (35/61), Bonucci/Juventus Turin (29/62), Chiellini/Juventus Turin (31/88) ab 120. Zaza/Juventus Turin (25/14) - Sturaro/Juventus Turin (23/4), Parolo/Lazio Rom (31/24), Giaccherini/FC Bologna (31/29) - Florenzi/AS Rom (25/21) ab 86. Darmian/Manchester United (26/26), De Sciglio/AC Mailand (23/26) - Pellè/FC Southampton (30/17), Eder/Inter Mailand (29/14) ab 108. Insigne/SSC Neapel (25/12). -Trainer: Conte
Schiedsrichter: Viktor Kassai (Ungarn)
Tore: 1:0 Özil (65.), 1:1 Bonucci (78., Handelfmeter)
Elfmeterschießen: 0:1 Insigne, 1:1 Kroos, Zaza schießt Elfmeter über das Tor, Buffon hält gegen Müller, 1:2 Barzagli, Özil schießt Elfmeter gegen den Pfosten, Pelle schießt Elfmeter neben das Tor, 2:2 Draxler, Neuer hält gegen Bonucci,Schweinsteiger schießt Elfmeter über das Tor, 2:3 Giaccherini, 3:3 Hummels, 3:4 Parolo, 4:4 Kimmich, 4:5 De Sciglio, 5:5 Boateng, Neuer hält gegen Darmian, 6:5 Hector
Zuschauer: 38.764
Gelbe Karten: Hummels (2), Schweinsteiger - Sturaro, De Sciglio (2), Parolo, Pelle (2), Giaccherini
Erweiterte Statistik (Quelle: deltatre):
Torschüsse: 12:12
Ecken: 7:5
Ballbesitz: 60:40 Prozent
Zweikämpfe: 91:82