Évian-les-Bains. Ex-HSV-Profi Tah war schon im Urlaub, als er den von Bundestrainer Löw veranlassten EM-Anruf erhielt. Kuriose Parallele zu Mustafi.

Am Sonnabend saß Jonathan Tah im Elbgym in Hamburg-Hoheluft Ost. Ein Handtuch hing über seiner Schulter. Im Kraftraum hatte der 20-Jährige gerade trainiert: Gemeinsam mit seinem Privattrainer waren Oberkörper und Beine dran. Eigentlich befand sich Tah längst im Urlaub, seit fast drei Wochen schon. Aber er wolle fit bleiben, sagte Tah dem Abendblatt-Blog „Matz ab“. Denn: „Ich hoffe weiter auf meine mögliche Olympianominierung.“ Leverkusens Innenverteidiger rechnete sich gute Chancen aus, im August mit der deutschen U-21-Nationalelf in Rio de Janeiro dabei zu sein.

Dieser Traum ist am Dienstagabend geplatzt. Oder sagen wir: Er wurde verdrängt durch die Erfüllung eines noch größeren, der eigentlich schon ausgeträumt schien. Nach dem Kreuzbandriss von Antonio Rüdiger im ersten Training der deutschen Nationalmannschaft im EM-Quartier in Évian griff Marcus Sorg, der Co-Trainer von Joachim Löw, zum Telefon und teilte Tah mit, dass ihn der Bundestrainer für das am Freitag beginnende Turnier in Frankreich nachnominiert habe. Sorgs Anruf war ein transkontinentales Ferngespräch.

Denn seit Dienstagmorgen weilte Tah in Florida im Urlaub. „Ich war gerade in meinem Hotel angekommen, hatte die Koffer noch nicht einmal geöffnet, als das Telefon klingelte und man mir mitteilte, dass ich gleich wieder umkehren soll. Einen schöneren Grund, den lang ersehnten Urlaub abzubrechen kann ich mir gar nicht vorstellen“, sagte Tah gestern Nachmittag am Telefon, ehe er direkt wieder ins Flugzeug stieg und nun im Laufe dieses Donnerstags bei der Nationalelf erwartet wird.

Zuvor hatte Tah noch Zeit gefunden, den Redakteuren der Bahn-Magazins "DB Mobil" seinen allerersten Bolzplatz im Herzen des Hamburger Stadtteils Ottensen zu zeigen:

Tah hat Löw „mit seiner Form beeindruckt“

„Ich wollte diese Position eins zu eins ersetzen und einen Innenverteidiger holen“, sagte Löw am Mittwochmittag. Es tue ihm für Rüdiger leid, „weil er sich im vergangenen Jahr enorm entwickelt und uns mit seiner Form beeindruckt hat“, sagte der 56-Jährige. Auch Glückspilz Tah hatte mit Pechvogel Rüdiger Mitleid: „So gern ich auch an diesem Turnier teilnehmen wollte und will, so etwas wünsche ich niemandem.“

Freud und Leid ist im Fußball aber oft nah beieinander. Und dass Tah trotz Urlaubs weitertrainierte, habe Löw zusätzlich überzeugt, sich für den Leverkusener zu entscheiden, obwohl dieser nicht im vorläufigen 27-Mann-Kader gestanden hatte. „Jonathan hat sich nicht auf die faule Haut gelegt. Die Basis ist da, um ihn innerhalb einer Woche auf das Niveau zu bringen, damit er einsetzbar ist“, sagte der Bundestrainer.

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Jonathan Tah für EM nachnominiert

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    Für das erste Gruppenspiel gegen die Ukraine am Sonntag in Lille (21 Uhr/ARD) kommt Tah noch nicht in Betracht, um den angeschlagenen Mats Hummels in der Innenverteidigung zu ersetzen. Dafür habe er zwei andere Optionen, sagte Löw: „Skhodran Mustafi, der schon internationale Erfahrung mitbringt, oder Benedikt Höwedes.“

    Der Schalker wird allerdings auch rechts in der Viererkette gebraucht. Mustafi dürfte daher neben Jerome Boateng beginnen. Und hier zeigt sich, dass der Fußball doch immer wieder für eine fast schicksalhafte Koinzidenz der Ereignisse zu haben ist: Vor der WM 2014 hatte Mustafi schon einen Urlaub mit Freunden auf Ibiza gebucht und war auf dem Weg zu einem Autohändler, als Löw anrief, um ihn für den verletzten Marco Reus nachzunominieren.

    Tah und Mustafi gingen auf dieselbe Schule

    Bereits im ersten Spiel gegen Portugal kam er dann für den angeschlagenen Hummels in die Partie und insgesamt auf drei Spiele im Turnier. Nun ist Tah der neue Mustafi. Kurioserweise stammen beide aus dem Nachwuchs des HSV und gingen sogar auf dieselbe Schule – die Stadtteilschule am Heidberg.

    Auf eine Halbzeit beläuft sich Tahs Erfahrung in der deutschen Nationalelf bisher – und zwar auf keine allzu gute: Beim Testspiel gegen England im März stand es 1:0, als der Leverkusener nach der Pause eingewechselt wurde. Am Ende hieß es 2:3. Das hatte weniger mit ihm als mit dem gesamten deutschen Kontrollverlust zutun und schmälerte sein Ansehen bei Löw keineswegs. Der 1,93-Meter-Mann steht beim Bundestrainer deshalb hoch im Kurs, weil er für seine 20 Jahre eine enorme Ruhe ausstrahlt, kopfballstark ist und schnell.

    Aus dem Florida-Urlaub zur EM, darin spiegelt sich im Kleinen die Rasanz, mit der Tahs Karriere bisher im Großen verlief. Mit 17 debütierte Tah schon für den HSV, was ihn zum jüngsten Hamburger Bundesligaspieler aller Zeiten machte. Aber nach Geschichten über Shootingstars produziert der Fußball nun mal am liebsten Geschichten über deren Abstürze. Und diese Geschichte hatten alle wichtigen Zutaten: einen echten Berater, einen falschen Berater und einen Vater, der im Hintergrund die Fäden zog.

    Nach dem öffentlich ausgetragenen Machtkampf um seine Zukunft, bei dem sein Vertrag mehreren Hamburger Medien, darunter auch dem Abendblatt, zugespielt worden war, verlieh ihn der HSV 2014 an den Zweitligisten Fortuna Düsseldorf, wo er eine unauffällige Saison spielte. Leverkusen war dennoch bereit, vor einem Jahr bis zu zehn Millionen Euro Ablöse zu zahlen. Und damit begann das Märchen, das ihn nun aus der Zweiten Bundesliga bis nach Frankreich geführt hat.

    Tahs Kapriolen sind Vergangenheit

    Bei Bayer wurde Tah zur festen Größe, bestritt 29 Bundesligaspiele und bewies in Champions-League-Partien wie gegen Barcelona, dass er auch internationalen Herausforderungen gewachsen ist, was Löw als wichtiges Kriterium sieht. Tah hat sich von einem hoch veranlagten Spieler mit Hang zu einigen Kapriolen zu einem seriösen Verteidiger entwickelt.

    Beraten wird er nun vom ehemaligen Bayern-Manager Christian Nerlinger – ebenso wie Boateng. Und dort hätte man nichts dagegen, wenn Tah bald eine ähnlich starke Marke würde. „Solange ich meinen Fokus auf meine Kernqualität gerichtet habe, also das Fußballspielen, kommt der Rest von allein“, sagte Tah am Sonnabend schwitzend im Hamburger Fitnessstudio. Und dass er fest daran glaube, dass Deutschland Europameister werde. Ab sofort kann Jonathan Tah dabei mithelfen.