Hamburg. Der gebürtige Hamburger spielte schon als 15-Jähriger in der U17. Auch Seelers Schwiegersohn trieb Tahs Karriere an. Eine Spurensuche.
Die alten Flutlichtmasten an der Adolf-Jäger-Kampfbahn leuchten im Abendnebel. Jürgen Trapp steht etwas verträumt am Rande der legendären Sportanlage an der Griegstraße. In wenigen Minuten beginnt sein Training mit der Kreisligamannschaft von Altona 93. Trapp, der Trainer, ist in Gedanken im Jahr 2000. Genauer gesagt denkt er an Jonathan Tah, den Abwehrspieler von Bayer Leverkusen, der im März gegen England (2:3) erstmals für die deutsche Nationalmannschaft auflief. "Ich bin unheimlich stolz auf den Jungen“, sagte Trapp dem Abendblatt kurz vor Tahs Debüt in der A-Elf.
Der 50-Jährige gilt als erster großer Förderer des kleinen Tah. Vor 16 Jahren hat er den Jungen in der F-Jugend von Altona 93 das erste Mal trainiert. Heute ist der Tah 20 Jahre alt und der erste Nationalspieler aus Hamburg seit Max Kruse. "Dass es so schnell geht, hätte ich mir nicht mal erträumen können“, sagte Tah bei seiner erstmaligen Ankunft im DFB-Quartier in Berlin. Und er rasante Aufstieg sollte sich fortsetzen: Am Mittwoch berief Bundestrainer Joachim Löw Tah als Nachrücker für den verletzten Verteidiger Antonio Rüdiger in den Kader für die Europameisterschaft in Frankreich (10. Juni bis 10. Juli).
Spricht man mit den früheren Wegbegleitern des Abwehrjuwels, war dieser Moment nur eine Frage der Zeit. "Ich habe schnell gesehen, das wird einer, den gebe ich nicht wieder her“, sagt Trapp. Fast neun Jahre trainierte er Tah in Altona, ehe er ihn dann doch Richtung HSV ziehen lassen musste. Zu gerne erinnert sich Trapp an den Tag, als er den damals Sechsjährigen zum ersten Mal in seinem Team begrüßte. Zuvor spielte Tah unter dem G-Jugendtrainer Frank Klawun das erste Mal an der Adolf-Jäger-Kampfbahn. Aufgefallen war Tah aber bereits in seinem Kindergarten. Die Schwester des heutigen HSV-Nachwuchskoordinators Sebastian Harms entdeckte das Talent und schickte den Jungen in die Spielgruppe von Altona 93. Die Fußballlaufbahn des Neu-Nationalspielers begann. „Er hat von Anfang an in der Abwehr gespielt. Schon damals ist er durch seine irre Dynamik und sein starkes Kopfballspiel aufgefallen“, sagt Trapp.
Seelers Schwiegersohn stellte Kontakt her
Auch der HSV wurde schnell auf Tah aufmerksam. Der damalige Jugendscout Mete Öztunali, Schwiegersohn von Clublegende Uwe Seeler, stellte schon früh Kontakt zu Altona 93 her. Gemeinsam mit der Familie entschied man aber, Tah in seinem Altonaer Umfeld aufwachsen zu lassen. „Wir hatten einen sehr starken Jahrgang, da konnte er sich in Ruhe entwickeln“, sagt Jugendtrainer Trapp. Mit seiner kleinen Schwester Deborah und Mutter Anja lebte Tah in der Klausstraße in Ottensen. Seine Mutter brachte ihn stets zu Fuß zum Training. Nach dem Kindergarten wechselte Jonathan zur Klosterschule am Berliner Tor. Seine Eltern lebten in Trennung, Vater Aquilas wohnte im Ausland. Mutter Anja war die Bezugsperson, Aquilas sollte erst später in Erscheinung treten.
Ein weiterer Förderer des jungen Tah ist Stefan Wolgast. Der Sportlehrer steht am Rande des Sportplatzes der Stadtteilschule am Heidberg. Im Hintergrund trainieren seine Schüler gemeinsam mit drei Nachwuchstrainern des HSV. Die Eliteschule des Sports kooperiert seit einigen Jahren mit dem Bundesligisten. Die meisten Jugendspieler gehen am Heidberg zur Schule. Weltmeister Shkodran Mustafi ist hier groß geworden. Auch Jonathan Tah hat hier gelernt, nachdem er 2009 im Alter von 14 Jahren von Altona 93 zum HSV wechselte. Wolgast erinnert sich noch gut an den jungen Jonathan. „Er war ein ganz bescheidener, freundlicher und kindlicher Junge“, sagt Wolgast, der Tah in der Schulmannschaft betreute. Besonders in Erinnerung geblieben ist ihm die erstaunliche Körpergröße seines ehemaligen Schülers. „Jonathan war schon als Teenager größer als alle Lehrer. Da war es gar nicht so einfach, die passende Ansprache zu finden. Wir sind mit ihm manchmal zu früh wie mit einem Erwachsenen umgegangen, aber er war ja noch ein Jugendlicher“, sagt Wolgast.
Doch nicht nur die Körpergröße war es, mit der Tah auffiel. „Er hat sich von den meisten HSV-Spielern in seinem Verhalten deutlich unterschieden. Jonathan hat es nie vor sich hergetragen, dass er etwas Besonderes ist“, sagt sein früherer Klassenlehrer Henning Joppen, der ihn bis zum Fachabitur begleitet hat. Ein braver Streber, das sagen auch seine Lehrer, war Tah allerdings nicht. Zusammen mit seiner HSV-Clique um Philipp Müller (heute HSV II) und Quinton Washington (USC Paloma) wurde Tah im HSV-Internat durch Undiszipliniertheiten auffällig, die ihm in seiner Karriere auch zum Verhängnis hätten werden können. Heidberg-Lehrer Joppen ist sich aber sicher, dass sein Ex-Schüler nie die treibende Kraft war. „Jonathan war in der Gruppe eher ein Mitläufer“, sagt Joppen. Heute bescheinigen ihm alle seine Trainer eine große mentale Stärke. „Sein Charakter freut mich. Er ist selbstbewusst und ehrlich, auch zu sich selbst“, sagte DFB-U21-Trainer Horst Hrubesch erst kürzlich im Abendblatt.
Als 15-Jähriger schon in der U17
Tah musste früh lernen, sich durchzusetzen und selbstständig zu leben. Trotz seiner Körpergröße – heute misst der Abwehrhüne 1,93 Meter – gehörte er in seinen Mannschaften immer zu den Jüngsten. Mit 15 Jahren nominierte ihn der ehemalige HSV-Jugendtrainer Torsten Fröhling bereits für die U-17-Mannschaft. „Man konnte erkennen, dass er etwas Außergewöhnliches hat“, sagt Fröhling am Telefon. Der heutige Trainer des Drittligisten Wehen-Wiesbaden fährt gerade durch die Berge des Taunus. Fröhling erinnert sich an einen Jungen, der „immer normal geblieben ist“. Fast schon ein wenig zu normal. „Er musste lernen, auf dem Platz seinen Mund aufzumachen und seine Mitspieler zu coachen“, erzählt Fröhling. „Ich habe immer zu ihm gesagt, brumm doch mal. Da hat er mich zwar etwas schief angeschaut, aber es hat gewirkt“, sagt Fröhling und muss lachen.
Noch gut in Erinnerung ist ihm der Vormittag im August 2011, als Tah beim 2:0-Sieg bei RB Leipzig in seinem zweiten Spiel sein erstes Tor für die U 17 machte. Das zweite Tor erzielte Levin Öztunali, der Enkel von Uwe Seeler, neben Tah das wohl größte Talent der HSV-Jugend in den vergangenen Jahren. „Beide Jungs waren etwas Besonderes, sowohl fußballerisch als auch menschlich“, sagt Fröhling.
Tahs Markwert wird sich verdoppeln
Heute eint Tah und Öztunali nicht nur ihre gemeinsame Vergangenheit beim HSV, sondern auch ihre Zugehörigkeit zu Bayer Leverkusen. Aus unterschiedlichen Gründen gelang es dem HSV nicht, die beiden Talente langfristig an sich zu binden. Zwei Verluste, die dem Verein wehtun. Für Tah bekam der HSV im vergangenen Sommer zwar acht Millionen Euro. Doch sein Marktwert dürfte sich in naher Zukunft bereits mehr als verdoppeln. Das wussten auch die Berater, die sich schon in jungen Jahren um Tah stritten. In seinem ersten Jahr bei den HSV-Profis wechselte Tah gleich dreimal seinen Agenten. Dass seine damaligen Vertragsinhalte mit einer millionenschweren Ausstiegsklausel einst an die Hamburger Medien verschickt wurden, soll allerdings an Tahs Vater Aquilas gelegen haben, der sich plötzlich wieder um die Belange seines Sohnes kümmern wollte. „Jonathan musste viele äußere Einflüsse aushalten, das war nicht einfach. Aber er ist immer ruhig geblieben“, sagt sein Jugendtrainer Torsten Fröhling, der noch heute Kontakt zu seinem einstigen Spieler hält.
Wenn Jonathan Tah nun möglicherweise auch während der EM zum Einsatz kommt, wird seine Karriere ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht haben. Jürgen Trapp, sein erster Förderer bei Altona 93, wird es sich in jedem Fall vor dem Fernseher in Hamburg anschauen und sich an den kleinen Tah von damals erinnern. Und vielleicht wird auch der große Tah beim Erklingen der deutschen Nationalhymne für einen kurzen Moment daran denken, wo seine Laufbahn vor 16 Jahren begann.
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