Évian-les-Bains. Beim ersten Training der Nationalelf im EM-Quartier verletzt sich der Verteidiger und fällt für die EM aus. Nachnominierung unklar.
Es hatte alles heiter angefangen. Im Stade Camille Fournier von Évian saßen rund 1000 Zuschauer und verfolgten das allererste Training der deutschen Nationalmannschaft nach der Ankunft im EM-Quartier am Südufer des Genfer Sees. Kinder aus der Region waren eingeladen zur öffentlichen Übungseinheit des Weltmeisters. Und das hörte man. Es wurde viel gelacht und geklatscht. Und dann gab es sogar noch Blumen in Schwarz-Rot-Gold vom Bürgermeister für die Delegation des Deutschen Fußball-Bundes.
Doch plötzlich winkte Thomas Müller hektisch auf dem Rasen, Betreuer liefen auf das Feld, und auf der kleinen Tribüne wurde es still. Im Übungsspiel war Antonio Rüdiger zu Boden gegangen und hielt sich nun vor Schmerzen das Knie. Bastian Schweinsteiger drehte sich weg und schüttelte den Kopf. Gestützt von zwei Betreuern humpelte Rüdiger anschließend vom Platz. Die schockierende Diagnose: Der Verteidiger erlitt einen Riss des vorderen Kreuzbandes im rechten Knie und wird für die EM ausfallen. Den Start in das Unterfangen EM-Titel, dem ersten seit 20 Jahren, hatten sie sich beim DFB-Team schöner vorgestellt. Rüdiger war fest eingeplant für das erste Gruppenspiel in fünf Tagen gegen die Ukraine in Lille (21 Uhr/ARD). Der 23 Jahre alte Innenverteidiger vom AS Rom hatte zuletzt beim Testspiel gegen Ungarn am Sonnabend (2:0) eine gute Figur als Vertreter des angeschlagenen Mats Hummels abgegeben. Ob für den Abwehrmann ein anderer Verteidiger nachnominiert wird, will Löw in Ruhe entscheiden. Theoretisch bestünde für den Bundestrainer bis zur ersten Partie die Möglichkeit, einen Spieler nachzunominieren. Allerdings nur dann, wenn auch ein unabhängiger Uefa-Mediziner die Spielunfähigkeit bestätigt – was in diesen Falle keine Frage sein dürfte.
Dabei fing der Tag noch ganz entspannt an: Um 16.59 Uhr war die deutsche Mannschaft von einem blauen Uefa-Bus vor dem Viersternehotel Ermitage ausgespuckt worden. Nur Lukas Podolski fehlte beim Flug aus Frankfurt. Der 31-Jährige ist zum zweiten Mal Vater geworden – eine Tochter. Dafür gab es von Löw einen Tag Sonderurlaub. In den Überlegungen des 56 Jahre alten Fußballlehrers für die Partie gegen die Ukraine spielte Podolski ohnehin keine Hauptrolle.
So will Löw gegen den 19. der Fifa-Weltrangliste auf eine sehr ähnliche Startelf wie gegen Ungarn setzen. Lediglich die Positionen rechts hinten, links vorne und die Besetzung des Sturmzentrums sind noch umkämpft. Zudem ist es noch nicht zu 100 Prozent sicher, ob der lange verletzte Sami Khedira schon von Anfang an auflaufen kann. Beim ersten Training am Dienstag verzichtete der Mittelfeldspieler auf die Spielform. Khedira hatte gegen Ungarn eine Prellung am Fuß erlitten. Und nun hat Löw noch das Problem in der Innenverteidigung. Vielleicht kommt ihm jetzt eine Prämisse zugute, die er sich seit einiger Zeit gesetzt hat.
Gegenüber dem „Kicker“ räumte Löw ein, dass er – anders als in der Vergangenheit – nicht so starr an einer festen Stammelf während des Turniers festhalten wolle. „Früher, bei der EM 2008 und auch der WM 2010, hatte ich einen Masterplan und eine feste Mannschaft im Kopf, und diese Mannschaft musste durchs Turnier. Davon bin ich abgerückt“, sagte Löw, der allerdings betonte, sehr wohl auch für das gesamte Turnier in Frankreich eine genaue Idee im Hinterkopf zu haben: „Ich habe den Masterplan, was technisch-taktische Inhalte betrifft. Und es ist auch wichtig, dass man den durchzieht und alle Spieler vorbereitet werden auf die ihnen zugedachte Position und die verschiedenen Systeme. Aber personelle Entscheidungen treffe ich heute dann, wenn sie anstehen.“ Nun ist es gut möglich, dass statt Rüdiger Shkodran Mustafi gegen die Ukraine neben Jerome Boateng in der Innenverteidigung beginnen wird.
Dazu sind noch Positionen in der Offensive vakant: Während sich Julian Draxler einen Vorteil im linken Mittelfeld erspielt zu haben scheint, bleibt es ganz vorne spannend. Mario oder Mario? Götze oder Gomez? Diese Fragen muss Löw in den kommenden vier Tagen beantworten.
Ähnlich kniffelig wird es hinten rechts werden, wo sich anbahnt, dass die neue eine alte Lösung wird: Wie schon in Brasilien könnte erneut Benedikt Höwedes das Rennen machen. „Zum Dani Alves werde ich nicht mehr“, sagte Höwedes nach dem Test gegen Ungarn. „Aber ich versuche, meine Attribute einzubringen.“ Und die sind eher defensiv. Zumindest gegen die Ukraine gesetzt sind Manuel Neuer (Tor), Jerome Boateng, Jonas Hector (Abwehr), Toni Kroos, Thomas Müller und Mesut Özil (Mittelfeld) zu sein.
Ganz am Ende wurde dann aber doch wieder gelacht im Stade Camille Fournier: Die verbliebenen Spieler schossen Bälle ins Publikum, und Schweinsteiger konnte sein nahezu perfektes Französisch zum Besten geben: Ob er den Kindern von Évian noch etwas sagen wolle, wurde der Kapitän von „La Mannschaft“ gefragt. Der grinste: „Merci, et au revoir“, sagte der 31-Jährige. „And see you soon.“